MIGHTY MIGHTY BOSSTONES

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Hymnen für die Subkultur

Seit 1983 schon stehen THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES aus – daher der Name – Boston schon auf der Bühne mit ihrer unkaputtbaren Mischung aus Hardcore, Punk und Ska. Ja, vielleicht haben sie das Genre des Skacore sogar erfunden, dem sie zugerechnet werden. Und sie bringen auch 38 Jahre nach ihrer Gründung noch Alben heraus.

„When God Was Great“ ist Nummer elf. Was das mit dem Debüt von 1990, auf dem es nicht noch um den „Devil“ ging, zu tun hat und wie man ein musikalisches Frankenstein-Monster erschafft, erzählt Frontmann Dicky Barrett in seinem zweiten Interview mit dem Ox. Während er spricht, zeigt er seinem Zoom-Gegenüber immer wieder gut gelaunt sein neues Domizil im Hintergrund – ein Landgut in Arizona, umgeben von Bergen, mit Kühen und krähenden Hähnen. So ganz anders als die Bosstones-Homebase Boston und irgendwie mehr Country als Skacore.

Dicky, ich erreiche dich in Arizona, wo du dir mit deiner Familie ein Anwesen gekauft hast, das du derzeit auf Vordermann bringst. Wenn ich das so sehe, dann wage ich zu behaupten: Es kommt dir sogar ein wenig entgegen, dass Touren derzeit nicht möglich sind – weil du dich dann nämlich umso intensiver um dein Zuhause kümmern kannst.
Das ist richtig. Erstens ist mir die Familie extrem wichtig. Meine Frau hat hier Verwandtschaft. Die Cousinen und Cousins unserer Kinder leben hier. Unter anderem deshalb sind wir aus Kalifornien hierher gezogen. Zweitens ist auf genau diese Art und Weise auch unser neues Album entstanden – ich muss immer etwas zu tun haben. Ich liebe es, Dinge zu erschaffen. Und das konnte ich zuletzt. Ich hatte Zeit. Und drittens geht es auch auf unserer neuen Platte sehr viel um Familie, Freundschaft, Beziehungen.

Und es ist meines Erachtens ein Stück melodischer als die Alben zuvor, abwechslungsreicher. Nicht nur auf den typischen Skacore ausgelegt. In „Certain things“ höre ich gar eine Steel-Gitarre. Country bei THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES?
Ja, das stimmt, haha. Die Pedal-Steel spielt ein Freund aus Boston, der Mitglied in der Band von Miley Cyrus ist, Matthew Pynn. Es ist so, wir wollten auf „When God Was Great“ ein bisschen nach den Siebzigern klingen. Das war von Beginn an die Idee. Wir hatten eben diese viele, viele Zeit dafür, konnten uns Gedanken machen, an den Songs arbeiten, Songskizzen herumschicken. Das kannten wir vorher nicht. Bosstones-Alben mit Zeit im Rücken aufnehmen? Das gab es einfach nicht. Und das jetzt zu erleben, war unheimlich befriedigend. Mal abgesehen davon, dass dies ein Privileg für uns war, das wir ausnutzen wollten. Schließlich sind viele andere Menschen in diesen Zeiten zum Nichtstun verdammt. Wir aber wurden geradezu überflutet von Ideen und konnten alles um uns herum ausblenden. Unser Bassist John Gittleman, unser Gitarrist Lawrence Katz, unser Keyboarder John Goetchius und ich sind hauptsächlich für Musik und Texte zuständig – und wir waren unheimlich produktiv. Wir fühlten uns wie auf einer Mission. Und wenn du dann noch Leute wie Tim Armstrong von RANCID als Produzent dabei hast, dann entdeckst du einen wahren Reichtum an musikalischen Ideen. Ganz ehrlich, ich habe mich sogar zum ersten Mal als Künstler gefühlt.

Warum?
Weil genau in diesen Zeiten – in denen alles schwer und unsicher ist und in denen Aufruhr herrscht – Künstler Dinge entstehen lassen. Also das tun, was Künstler eben tun. Das ist wie die Luft zum Atmen. Und das machte zum ersten Mal Sinn für mich. Bislang habe ich mir solche Gedanken nicht gestattet. Wenn jemand früher mit „Künstler“ gekommen war, hatte ich immer gesagt: Hör auf! Ich wollte das nicht hören.

Aber warum hast du dich vorher nie als Künstler gefühlt? Aus – falscher – Bescheidenheit?
Ich denke, weil es generell zu viele Leute gibt, die sich nicht Künstler nennen sollten, es aber tun. Ich dachte immer: Wenn du Picasso, Rembrandt, eben all diese alten Meister der Malerei, oder etwa Elvis Presley, die BEATLES, Frank Sinatra in Sachen Musik nimmst – ja, das waren Künstler! Wie könnte ich mich jemals mit ihnen vergleichen? Das passt nicht!

Aber du hast mit deiner Musik, mit den Songs von THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES ja schon immer etwas in den Menschen ausgelöst. Und genau das ist doch die Definition von Kunst.
Ja. Das habe ich nun auch herausgefunden und mir selber eingestanden. Früher klang mir dieses Künstlerding immer zu effekthaschend. Jetzt habe ich erkannt: Okay, nichts anderes machst du, Dicky. Du hilfst, dass die Welt überlebt und die Leute irgendwie durch Situationen wie die derzeitige kommen. Außerdem, du hilfst nicht zuletzt dir selber. Und das ist überhaupt der Grund, warum es THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES gibt – und warum wir noch immer zusammen sind. Eine Gruppe von Typen, die keinem etwas zuleide tun und anderen Menschen Spaß und Freude schenken wollen. Hört sich alles irgendwie verrückt an. Ist aber so.

Ist „When God Was Great“ denn somit das erste Album der THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES, das in gewisser Hinsicht perfekt und authentisch ist in dem Sinne, dass ihr erstmals wirklich, nun ja, bei euch wart beim Songwriting?
Absolut. Genau so kann man das ausdrücken. Ich muss sogar sagen: Es ist ein Meisterwerk. Sorry. Eigentlich bin ich vorsichtig mit derlei Einschätzungen. Denn das behauptet ja ohnehin jeder Musiker und jede Musikerin vom jeweils neuesten Album. Niemand, der Musik macht, würde sich hinstellen und sagen: Die neue Platte ist nicht so gut wie die davor. Und eigentlich liegen meine besten Zeiten auch schon hinter mir. Aber in diesem Fall sage ich tatsächlich: „When God Was Great“ ist das beste Bosstones-Album überhaupt.

Hast du keine Angst, dich damit zu weit aus dem Fenster zu lehnen?
Nein.

In deinem letzten Interview mit dem Ox im Dezember 2011 klang das aber noch anders. Seinerzeit sagtest du sinngemäß: Jedes Mal, wenn deine Band ein neues Album herausbringe, hättest du Angst davor, was eure Fans denken.
Nun ja, es gibt immer verschiedene Meinungen. Und das könnte natürlich auch dieses Mal wieder so sein. Aber vielleicht werden auch alle anderen so denken wie ich, wenn sie die Songs erstmal hören. Wer weiß. Es ist doch so, einerseits sind unsere Fans top. Sie begleiten uns seit Jahren, reisen uns hinterher und wissen genau, wie wir sind, für was wir stehen. Und wir nehmen das nicht auf die leichte Schulter. Wir sehen uns in der Verantwortung, ihnen jedes Mal etwas zu geben, das ihnen auch wirklich Freude macht können. Andererseits basiert alles, was wir tun und machen, in erster Linie einmal auf den Dingen, die wir mögen. Darauf, wie wir selber Musik sehen. Letztendlich denke ich dennoch: Die Wahrscheinlichkeit, dass THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES einmal ein Album aufnehmen, das die Fans wirklich irritieren sollte und auf dem wir wie Miley Cyrus klingen, ist sehr gering. Auch wenn wir dieses Mal sogar Mileys Steel-Gitarristen dabeihatten, haha.

Ich las neulich, dass der Titel des Albums „When God Was Great“ und der eurer ersten Platte „Devils Night Out“ von 1990 eine Art Dualität darstellen.
Ja. Beide Alben gehen irgendwie Hand in Hand. So wie dieser Gegensatz zwischen Teufel und Gott, die ja beide irgendwie zusammengehören. Wir dachten beim Schreiben des neuen Albums oft an damals. An unsere Anfänge in einer Zeit, in der gerade die Hair-Metal-Bands erfolgreich waren. Es war eine gute Zeit. Wenn du damals wie wir in der Gegend von Boston aufgewachsen bist, dann hast du automatisch in einer gewissen Dualität gelebt. Wir hingen in Clubs und Bars, ab, haben getrunken, gefeiert. Haben nachts auf der Straße gesessen. Sind in diese Musikszene rund um Boston mit Punkrock und Garage eingetaucht. Aber am Sonntagmorgen ging es in die Messe. Das passte eigentlich nicht. Aber so war es. Und das hat uns alles bedeutet. Wir dachten seinerzeit ohnehin, dass wir nur dieses eine Album aufnehmen würden und nannten es unseren nächtlichen Streifzügen entsprechend „Devils Night Out“. Und heute? Stehen wir hier. Haben das elfte Album am Start! Denken an damals und woher wir kommen. Und schlagen nun eine Brücke, musikalisch, textlich und mit dem Titel.

Eine klassische Retrospektive also.
Ganz genau.

Mein erster Gedanke bei demAlbumtitel war ja eher: Das ist Gesellschaftskritik. Die Zeiten, als Gott vielleicht groß war, sind in jeder Hinsicht vorbei. Dazu genügt ein Blick hinaus in diese heutige Welt.
Das stimmt. Und ich mag auch diesen Ansatz irgendwie. Ich finde es überhaupt wichtig, wenn Menschen ihre eigenen Vorstellungen zu irgendwelchen Titeln oder Songs entwickeln. Aber diese Deutung würde dem Album aus unserer Sicht nicht gerecht.– auch wenn etwa ein Song wie „The killing of Georgie (Pt. III)“ über den Polizistenmord an George Floyd darauf enthalten ist. Denn dahinter steckt für uns viel mehr. Es ist persönlicher. Und daher kann ich keinen anderen Interpretationsansatz der zulassen, haha.

Was würde der „Devils Night Out“-Dicky von 1990 eigentlich sagen, wenn er THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES heute auf der Bühne sähe?
Kennst du dieses Emoji, dem der Kopf explodiert?

Ja, das kenne ich, haha.
Ich denke, das würde Dicky passieren, haha. Es wäre damals völlig unmöglich gewesen, diesem jungen Typen weiszumachen, dass diese Band auch über dreißig Jahre später noch Alben herausbringen wird. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, ihm zu erzählen, was alles passieren würde. Daran hätte er niemals geglaubt. Nicht mal im Ansatz. Ich hätte ihm gesagt: „Hey, Kumpel! Keine Sorge. Es wird sich alles ergeben. Du wirst dein Ding machen.“ Und er hätte geantwortet: „Halt deine verdammte Fresse, Opa!“ Haha.

Das Album endet mit „The final parade“, einem über acht Minuten langen Stück, bei dem zig andere bekannte und mit euch befreundete Musikerinnen und Musiker mitspielen und mitsingen, Leute von RANCID, THE INTERRUPTERS, STIFF LITTLE FINGERS und Co. Das ist herrlich! Und es ist gewagt. Denn eigentlich wäre das der perfekte Song, um das letzte Album der THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES vor ihrer Auflösung zu abzuschließen. Eine letzte Zusammenkunft, eine letzte Sause mit allen, die dazugehören.
Das ist wahr. Über diesen Song alleine könnte ich ohnehin problemlos eineinhalb Stunden sprechen. Wir denken immer sehr genau darüber nach, wie wir ein Album beginnen – und wie wir es beschließen. Was wir am Ende sagen wollen. Aber „The final parade“ war wirklich eine Herausforderung! Es war von Anfang an ein Biest! Es war schwer, dieses Ding zu konzipieren. Ich wollte einen Track schreiben und auf dem Album haben, bei dem man die Tanzfläche einfach nicht verlassen kann. Selbst wenn du wolltest, es ginge nicht! Nicht so wie sonst, wenn du zu einem Stück tanzt und dann hört es auf und das nächste Lied kommt und interessiert dich nicht, also wartest du, bis „Monkey man“ von THE SPECIALS läuft, um weiter zu skanken. Und, ja, ich glaube, mit „The final parade“ haben wir genau das geschafft. Außerdem wollten wir damit der Welt zeigen: Wir gehören – bei aller Unterschiedlichkeit, bei allen Differenzen – noch zusammen. Wir sind eins. Wir sind nicht geteilt. Die Dinge sind intakt. Und das hier ist der Soundtrack dazu. Der Soundtrack, den die Menschen gerade hören wollen. Und schlussendlich darf man nicht vergessen: Wir mussten all die Menschen, die wir eingeladen hatten mitzumachen und die dann zusagten, ja auch irgendwie unterbringen. „The final parade“ hat am Ende meine Erwartungen sogar übertroffen. Es hat eine große Melodie. Es handelt von wunderbaren Freundschaften. Es ist ein Frankenstein-Monster im Songformat, das zum perfekten Zeitpunkt entstanden ist und jetzt für immer am Ende dieser Platte existieren wird.

„The final parade“ taugt auch zur Hymne einer ganzen Subkultur: Man hört den Song, erkennt die eigenen Lieblingskünstler und Lieblingskünstlerinnen aus Bands dieser Subkultur wieder und hat einen Heidenspaß dabei, sie jeweils rauszuhören.
Das stimmt. Das passt wunderbar! Auch weil ich mein ganzes Leben in dieser Subkultur zugebracht habe und es wunderbar finde, wenn immer wieder neue Leute dazustoßen – siehe etwa eine Band wie BUSTER SHUFFLE, die ich sehr schätze. Immer wieder haben irgendwelche Leute versucht, mir all das madig zu machen: Das ist nicht cool. Das ist nicht angesagt. Aber es hat mich niemals gekümmert, was vermeintlich hip oder populär ist. Ich wusste immer, die Musik dieser Subkultur ist stark. Sie hat eine unfassbare Energie – wie dieser Song. Und das ist das, was zählt.

Das Albumcover von „When God Was Great“ zeigt einen Tesla, der auf dem Dach liegt. Im Hintergrund brennen und qualmen die Ruinen einer Stadt. Und auf dem geschrotteten Auto sitzt ein Kerl und starrt auf das Display seines Mobiltelefons. Eine schöne Anspielung auf den Zeitgeist: Wir sind selbst im Untergang noch süchtig nach unserer Technologie.
So ist es. Wir sitzen, während um uns alles brennt, nur da und checken unseren Instagram-Account oder schauen uns irgendwelche Tänze bei TikTok an, haha. Das Cover ist ein Seitenhieb auf die heutige Zeit. Und es ist vom Stil her irgendwo Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger angesiedelt und einerseits inspiriert durch das Cover der ersten Auflage von Salingers „Fänger im Roggen“, das ich wunderschön und sehr cool finde. Dort ist es ein stürzendes Pferd vor einer Stadtsilhouette. Andererseits habe ich seit jeher ein Faible für Cover, auf denen es etwas zu entdecken gibt. Ich habe es schon als Kind geliebt, mir Plattenhüllen zu schnappen und beim Hören zu untersuchen, was alles darauf zu sehen ist. Ich bin da stets richtiggehend eingetaucht.

Was ist denn dein liebstes Albumcover überhaupt?
„London Calling“ von THE CLASH ist toll! Oder Sinatras „In The Wee Small Hours“. Das von THE SPECIALS, auf dem die Bandmitglieder nach oben in Richtung Kamera schauen, finde ich auch wunderbar! All diese ikonischen Bilder. Welches ist deins?

Ich habe viele. Aber womöglich ist meine Nummer eins das Cover des ersten RAMONES-Albums.
Das ist hervorragend! Und sie haben ja nicht nur damit Maßstäbe gesetzt und wurden immer wieder kopiert! Sie haben ja einen ganz eigenen Look geprägt, der bis heute relevant ist: die Lederjacken, die Sneakers, die Skinny-Jeans. Und eigentlich unfassbar, dass sie bei all dieser Vorbildhaftigkeit derart sozial distanziert waren. Ist dir mal aufgefallen, dass sich die RAMONES auf ihren Covern niemals berührt haben? Ich meine, die ROLLING STONES sind ja mitunter fast übereinander gepurzelt. Die RAMONES aber standen immer strikt voneinander getrennt. Sie waren Individuen. Ich sage dir, einem Typen wie mir, der wie ein Verrückter auf Plattencover starrt, fällt so etwas auf, haha.

Wo du gerade von „Verrückter“ im Sinne von „Freak“ oder „Nerd“ sprichst: Im erwähnten Interview 2011 sagtest du, du würdest aus Prinzip keinen Social-Media-Account unterhalten. Wir sieht es heute damit aus?
Ich habe noch immer keinen Facebook-Account. Ich glaube, wir haben als THE MIGHTY MIGHTY BOSSTONES einen. Auch einen bei Instagram. Aber da bin ich mir nicht mal sicher, haha. Ich hatte einmal ein eigenes, privates Konto bei Instagram. Aber das Interesse daran habe ich schnell verloren. Ich gehe manchmal noch zu Twitter und hänge immer noch der Illusion nach, ich würde dort irgendwelche seriösen, informativen News bekommen. Mein Fehler, haha. Ich lebe vielleicht noch im digitalen Mittelalter. Aber ich halte eben nichts davon und habe einfach ein ungutes Gefühl dabei, wenn ich mir überlegen, dass wenige Menschen binnen kürzester Zeit solche riesigen Plattformen eingerichtet haben, auf die dann in ebenso kurzer Zeit alle aufgesprungen sind.