NIGHTWATCHERS

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Konsequent politisch

David Mareau (bs, voc), Freddy Coste (dr), Julien Virgos (gt, voc) und Kevin Bodei (gt, voc) alias NIGHTWATCHERS kommen aus Toulouse. Mit „La paix ou le sable“ veröffentlichten sie 2019 auf Lövely Records aus Schweden eines der textlich intensivsten und intellektuell anspruchsvollste Punkalben der letzten Jahre. Nachdem sich die Band auf ihren ersten Releases „Good Kids Obey“ (2016) und „Who’s To Blame“ (2017) mit dem Thema Strafverfolgung auseinandergesetzt hatte, beschäftigte sie sich auf „La paix ou le sable“ mit dem französischen Kolonialismus und seinen Folgen. Auf dem neuen Album „Common Crusades“ – immer noch textet die Band auf Englisch – ist das Thema das brisanteste, das die französische Innenpolitik und die gesellschaftlichen Diskussionen derzeit zu bieten hat, und welches an den Kolonialismus-Schwerpunkt anknüpft: Der Umgang der in ihrem Selbstverständnis laizistischen französischen Republik mit dem Islam und den Bürger:innen muslimischen Glaubens. Julien beantwortete meine Fragen dazu.

Bitte erzähl uns, in welchem sozialen und politischem Klima ihr euer Album geschrieben und aufgenommen habt.

In den letzten Jahren hat sich der politische Kurs eindeutig nach rechts verschoben, in Frankreich wie im Rest Europas. Die derzeitige französische Regierung hat beschlossen, den Kampf gegen den „radikalen“ oder „politischen Islam“ zur Priorität zu machen, im Namen des nationalen Zusammenhalts und der „Werte der französischen Republik“. Aus unserer Sicht ist dieser Kampf eine kontinuierliche Fortsetzung der kolonialen Geschichte Frankreichs, insbesondere im algerischen Kontext. Französische Regierungen haben dort systematisch versucht, sogenannte „universelle Werte“ durchzusetzen, mit dem Argument, dass die Ausübung des Islams mit ihnen nicht vereinbar sei.

Frankreich war schon immer stolz auf seine laizistische Verfassung, die Trennung von Kirche und Staat, und als Atheist, der aus Deutschland kommt, wo die Trennung weniger streng ist, gefällt mir die Idee. Aber in letzter Zeit gab es viel Kritik an den Auswirkungen dieser Prinzipien. Kannst du diese erläutern?
Das Problem mit dem Laizismus in Frankreich ist, dass er tatsächlich eine variable Geometrie hat. Auch das ist nichts Neues. Das Gesetz von 1905, das die offizielle Trennung von Kirche und Staat markiert, galt nicht im gesamten Staatsgebiet in gleicher Weise. Es gab tatsächlich eine „muslimische Ausnahme“ in Algerien, wo die Gottesdienste vom französischen Staat streng überwacht wurden. Heute erscheint die Verteidigung des Laizismus als ein kaum verhüllter Vorwand, um die Stigmatisierung von Muslimen und Assimilierten auf französischem Boden zu rechtfertigen. Kein Mitglied von NIGHTWATCHERS ist gläubig, aber wir setzen uns für die Freiheit von Religionsausübung ein.

Die Nachricht, dass die Taliban in Afghanistan wieder die Kontrolle übernehmen, war ein Schock, und es sieht so aus, als würden sie die Uhr hinsichtlich der Rechte von Frauen zurückdrehen. Sollte diese Frage mit der europäischen Diskussion über die Rolle des Islam verbunden werden?
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist eine traurige Nachricht und ein weiterer Beweis für das Scheitern des westlichen Militärinterventionismus im Nahen Osten. Die Situation ist in der Tat äußerst besorgniserregend für das afghanische Volk und insbesondere für die afghanischen Frauen. Unsere Regierungen müssen das Asylrecht garantieren und sicherstellen, dass sie diejenigen, die gezwungen sind, aus ihrem Herkunftsland zu fliehen, unter menschenwürdigen Bedingungen aufnehmen. Ich denke, dass auch die Mehrheit der Muslime in Frankreich die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan beklagt.

Lass uns über eure Musik sprechen: Was gibt es dieses Mal Neues? Ich höre denselben großartigen NIGHTWATCHERS-Sound, was für mich erst mal eine gute Nachricht ist!
Ich denke, „Common Crusades“ entspricht unserem ersten Album, vielleicht mit ein bisschen mehr Post-Punk- und Achtziger-Schlagseite. Meiner Meinung ist es insgesamt nach ein bisschen weniger brutal, ein bisschen subtiler und melancholischer. Wir sind sehr zufrieden mit dem Album und der Produktion. Es ist die konsequenteste Platte, die wir bisher veröffentlicht haben.

Wie habt ihr die letzten anderthalb Jahre in der Corona-Pandemie verbracht, privat und als Band?
Wir haben seit unserer Tour in Skandinavien im Oktober 2019 kein Konzert mehr gespielt. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um dieses zweite Album zu komponieren und aufzunehmen und auch eine Split-LP mit unseren Freunden ACCIDENTE vorzubereiten, die wir Ende des Jahres aufnehmen wollen. Wir hoffen, dass wir bald wieder Konzerte geben können, denn das vermissen wir wirklich.

Kommentiere doch im Folgenden bitte die Songs von „Common Crusades“, denn ich ahne, dass hinter jedem Titel eine spannende Geschichte steckt. Fangen wir an mit „For the sake of the people and the nation“ ...
Er basiert auf einem Artikel von Cecil John Rhodes, Premierminister der Kapkolonie, der 1898 erschien. Er beleuchtet die wirtschaftlichen Rechtfertigungen der Kolonisierung im Kontext der sozialen Krise in England Ende des 19. Jahrhunderts. In Frankreich finden wir bereits 1885 dieselbe Argumentation bei Jules Ferry: „Die koloniale Frage ist für Länder, die wie die unsrigen durch die Natur ihrer Industrie auf einen großen Export angewiesen sind, die Frage der Absatzmöglichkeiten überhaupt.“

„The White Fathers“ ...
Der Text ist einer Rede von Kardinal Charles Lavigerie entnommen, die er 1867 in der Kathedrale von Algier vor den französischen Truppen hielt. Als Gründungsmitglied der Gemeinschaft „Weiße Väter“ spielte er eine zentrale Rolle bei der Rechtfertigung der französischen Kolonisierung in Afrika im Namen des Kampfes gegen die muslimische Barbarei.

„No matter who ‚Osei Kofi Tutu I‘ is“ ...
Der Text beruht auf einem Beitrag im „Grand dictionnaire universel du XIXe siècle“, herausgegeben ab 1866 von Pierre Larousse, und einem Artikel von Jules Lemaître von 1887. Hier wird die Kolonisierung vor dem Hintergrund der darwinistischen Theorie mit der natürlichen und biologischen Überlegenheit einer „überlegenen Rasse“ gegenüber „minderwertigen Rassen“ gerechtfertigt: Demzufolge ist es natürlich legitim, über sie zu herrschen. „Die Natur hat eine Rasse von Arbeitern geschaffen; es ist die chinesische Rasse, von wunderbarer Geschicklichkeit und fast ohne Ehrgefühl. Regiere sie mit Gerechtigkeit [...] und sie werden zufrieden sein; eine Rasse von Ackerbauern ist die negroide, behandle sie gut und menschlich und alles wird in Ordnung sein; eine Rasse von Herren und Soldaten, ist die europäische Rasse.“

„1905 & The muslim exception“ ...
Der Text ist inspiriert von einem 1999 erschienenen Artikel von Franck Frégosi, „Les contours fluctuant d’une regulation étatique de l’Islam“, von der Rede von Kardinal Verdier auf dem XII. Nationalen Eucharistischen Kongress in Algier 1939 und von einem Auszug aus dem Geografie-Handbuch „CM2“ von 1902. Der Laizismus ist im französischen Mutterland richtig, davon ausgenommen ist aber das Kolonialreich, wo Kolonisierung und Christianisierung immer Hand in Hand gehen. In Algerien überwachte der französische Staat die Ausübung des Islam und unterwarf den muslimischen Kultus einem Regime der Kontrolle und Regulierung.

„A not-so-secular state culturalism“ ...
Der Text stammt aus einem Artikel des Generals Ducrot von 1864. Angesichts der mächtigen und wachsenden Bewegung der islamischen Wiedergeburt in Algerien in der Zwischenkriegszeit, die von Scheich Abdelhamid Ben Badis vorangetrieben wurde, schränkte die französische Regierung aus Angst vor Protesten das Recht ein, in den von ihr kontrollierten Moscheen zu predigen. Am 16. Februar 1933 wies der „Circulaire Michel“, benannt nach dem Generalsekretär der Präfektur von Algier, Jules Michel, die Kolonialbehörden an, die Ulamas zu überwachen, die im Verdacht standen, „der französischen Sache schaden zu wollen“.

„The phantom menace“ ...
Das bezieht sich sowohl auf Jean Castex’ Antrittsrede als Premierminister 2020 als auch auf einer Verlautbarung des Bildungsministeriums. Auch heute finden wir in der französischen Gesellschaft dieselbe Logik des Kampfes gegen den Islam, der als Gefahr für den nationalen Zusammenhalt gesehen wird. Im Namen der Radikalisierung und des Aufkommens einer separatistischen Bewegung gibt es eine Politik der Prävention und Abschreckung vom jüngsten Alter an. Als Teil ihrer täglichen Arbeit sind Lehrer/innen nun verpflichtet, Verhaltensweisen und Reden, die gegen die Werte der französischen Republik verstoßen, zu melden und zu bestrafen.

„G. Kepel, president whisperer“ ...
Das ist inspiriert von Emmanuel Macrons Rede vom 25. April 2019 und von dem Bericht der Untersuchungskommission des Senats unter dem Vorsitz von Nathalie Delattre 2020. Macrons politische Agenda in Bezug auf Islam und Kommunitarismus hat sich seit seinem Amtsantritt stark verändert. So betonte er am 12. Juli 2016 in einer Rede im Maison de la Mutualité, dass er die kulturelle und religiöse Vielfalt der französischen Gesellschaft akzeptiert. „Alle Menschen in diesem Raum sind Franzosen“, sagte er, „egal ob sie Jean oder Malika heißen, denn die französische Identität ist ein Projekt, sie ist niemals beschränkt.“ Seit dem Anschlag auf das Pariser Polizeipräsidium im November 2019 scheint sich ein Umdenken vollzogen zu haben. Unter dem Einfluss von Gilles Kepel hält er es für eine echte Gefahr, dass Radikale in den „Schattenbereichen der Republik“ gedeihen könnten. Zu diesem Zeitpunkt erwog er, Maßnahmen zu ergreifen, um den saudischen Einfluss zu verringern, den Kepel seit mehr als dreißig Jahren verdächtigt, den separatistischen politischen Islam auf französischem Territorium zu fördern. Daraus folgte vor allem eine strengere Kontrolle der ausländischen Finanzierung muslimischer Gebetsstätten.

„Dismissed“ ...
Der Text wurde übernommen aus der allgemeinen politischen Erklärung des französischen Premierministers Jean Castex vor der Nationalversammlung 2020. Die Gewalt gegen die Polizei in einigen Stadtvierteln gibt Jean Castex die Gelegenheit, seine Unterstützung für die Polizei zu bekräftigen und „eine entschlossene und kompromisslose Antwort des Staates“ zu fordern. Gleichzeitig werden Fälle von Polizeigewalt seitens der Regierung trotz öffentlicher Proteste totgeschwiegen. Im Fall von Adama Traoré wurden die Polizeibeamten freigesprochen, weil ein Sachverständigengutachten feststellte, dass „Adama Traoré nicht durch ‚Erstickungstod‘“ starb, was die Verantwortung der Polizisten, die die Festnahme durchgeführt hatten, nahelegen würde, „sondern an einem kardiogenen Ödem“.

„Their turn trying to rule the world“ ...
Der Text wurde dem Senatsbericht von Jacqueline Eustache-Brinio im Namen der Untersuchungskommission über die Reaktionen der öffentlichen Behörden auf die Entwicklung der islamistischen Radikalisierung und die Mittel zu ihrer Bekämpfung von 2020 entnommen. Dieser hat die aktuelle Haltung der französischen Regierung zum „islamistischen Separatismus“ maßgeblich beeinflusst. Die Liste der konsultierten Experten könnte den Inhalt des Berichts vorweggenommen haben: Wir finden hier einen Angst erzeugenden Sicherheitsdiskurs, der in einigen Passagen zum Verschwörungsglauben tendiert. Ohne wissenschaftliche Beweise wird der Aufstieg einer muslimischen Orthopraxie und die Existenz eines separatistischen politischen Projekts in den „Brennpunkten“ als Tatsache dargestellt.

„Just a matter of time“ ...
Dieser Text basiert auf einem Abschnitt desselben Berichts, der die verschwörerische Verblendung besonders deutlich werden lässt. Hier ist die Rede von einer saudischen „weichen Macht“, die sich im Herzen unseres Landes etabliert, wie in Mantes-la-Jolie, wo die Salafisten und die Muslimbrüder versuchen sollen, strategische Positionen in der französischen Gesellschaft zu besetzen, um den Einfluss eines angeblichen separatistischen Projekts zu vergrößern.