RITUAL

Foto© by Alan Al-Kassab

Hardcore als Konstante

Deni (gt) ist in einem Business für veganes Superfood und Nahrungsergänzungsmittel. Pascal (bs) arbeitet bei der Stadt. Julian (voc) ist Kameramann und Philipp (dr) Professor für Kunst und Musik in der Sozialen Arbeit. Nur Hardcore ist die Konstante, die über die Jahre geblieben ist. Genau zehn Jahre nach der Auflösung entschlossen sich RITUAL deshalb zu drei Reunion Shows mit PATSY O’HARA und EMPTY VISION Anfang Oktober 2022. Wie es dazu kam und wie die Band heute über ihre alten Songs denkt, erzählen Philipp und Julian im Online-Meeting.

Mittlerweile lebt ihr ziemlich verstreut in Deutschland und habt unterschiedliche Berufswege eingeschlagen. Waren eure Karrieren damals ein Grund für die Auflösung?

Philipp: Es waren eher persönliche Gründe. Man hat gemerkt: Wir können nicht mehr so viel proben, nicht mehr so viel live spielen. Auch kreativ sind wir mit dem letzten Album an einem Punkt angekommen, wo wir nicht so genau wussten, wie wir künstlerisch weitermachen sollen. Die Band war an einem guten Abschluss. Wir wollten es nicht ausfaden lassen, sondern lieber mit einem Knall gehen. Wir haben noch zwei Touren weitergespielt im Bewusstsein, dass wir es danach sein lassen. Für mich war ein behutsames Loslassen ganz wichtig.

Wie kam es zur Reunion?
Philipp: Ich habe eines Morgens eine 17-sekündige Sprachnachricht von meinem Freund Hassan Haider, Sänger von PATSY O’HARA, bekommen. Er sagte nur: „Ey Philipp, ich hab letzte Nacht geträumt, wir spielen ’ne Reunion Show mit PATSY O’HARA und ihr spielt mit.“ Darauf hab ich geantwortet: „Klingt für mich nach einer ziemlich guten Idee!“ Ich hatte noch Kontakt mit Hajo von EMPTY VISION, der wohnt nämlich wie ich in Hamburg. Der sagte, dass das Thema bei denen auch schon aufgekommen war.

Was haltet ihr so allgemein von Reunion-Shows? Manchmal kann das peinlich werden – oder eben total geil.
Julian: Früher war ich bei Reunions erst mal skeptisch. Jetzt verstehe ich, warum Bands das machen.

Philipp: Außer die spielen dann scheiße. Am Ende kommt es darauf an, ob das Konzert geil ist. Nicht darauf, ob das alte Säcke sind. Bei Reunion-Shows sagen die Leute schnell, es ginge nur um Geld und Ruhm. Heute verstehe ich: Du kannst vielleicht mit einem leichten Plus aus dem Konzert rausgehen, aber davon lebst du nicht die nächsten Jahre. Auch die Frage nach dem Ruhm ist schwierig. Bands wissen: Den Ruhm kannst du dir mit einer Reunion auch versauen.

Welche Reaktionen erhofft ihr euch von den Fans und euch selbst?
Julian: Ich wünsche mir für mich eine innere Eskalation. Dieses Gefühl, wenn man auf die Bühne kommt, das Mikro in die Hand nimmt und komplett loslässt. Das habe ich in der Form nicht mehr in anderen Bands gehabt. An viele RITUAL-Konzerte erinnere ich mich gar nicht mehr, weil dieser Zustand so intensiv war.
Philipp: Das ist wirklich eine rauschhafte Erfahrung. Das klingt jetzt etwas esoterisch, aber das ist, als würde der Körper von selbst agieren. Man wird so von dieser Energie mitgerissen. Das hat Hardcore für mich immer ausgemacht und das ist, was ich vermisst habe. Live entfaltet sich da etwas, was es so in anderen Musikrichtungen nicht gibt. Genauso schön ist das ganze Drumherum, also die Proben und dass man alte Freunde trifft. Was die Live-Reaktionen angeht: Da würde ich erst mal vorsichtig abwarten. Die Leute, die früher gestagedivet sind, sind ja auch älter geworden, haha.

Apropos Resonanz: Ihr habt mal erzählt, dass ihr im Ruhrgebiet nicht so gut ankommt wie woanders.
Julian: Das ist total lustig, darauf hat mich letztens eine Arbeitskollegin angesprochen. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, das jemals gesagt zu haben, haha. Es kann aber gut sein, dass es am Anfang tatsächlich so war. Das wurde aber später auch im Ruhrgebiet richtig super.

Philipp: Ich finde es spannend, das noch mal szenenhistorisch zu diskutieren. Unsere Einflüsse waren damals Neunziger- und Zweitausender-Hardcore, zum Beispiel von HOPE CONSPIRACY und SNAPCASE. Das Ruhrgebiet war Anfang der Zweitausender eine ganz starke Tough-Guy-Domäne. Ich glaube, das Ruhrgebiet ist heute noch der Hotspot dafür. Die Konzerte wurden damals von Bollo-Beatdown und Metalcore dominiert. Erst über unsere entstehenden Verbindungen zu Bands aus Oelde im Münsterland und aus Ibbenbüren haben wir Leute gefunden, die ähnlichen Hardcore mochten wie wir. Deshalb kamen wir anfangs außerhalb des Ruhrpotts besser an. Spätestens mit HAVE HEART – nicht nur aufgrund unserer gemeinsamen Tour, sondern auch durch deren Massenwirkung – wurde Modern Hardcore im Ruhrpott größer.

Am Anfang von RITUAL wart ihr 17, 18 Jahre alt, jetzt seid ihr Mitte dreißig. Wie blickt ihr heute auf alte Songs?
Philipp: Julian meinte letztens: „Den Song kann ich kaum noch singen, weil der Text so jugendlich ist!“ Manche alten Texte sind aber klüger, als man damals wusste. „Guilt will get you anyway“ reflektiert, dass man trotz viel Idealismus irgendwann merkt, „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, um es mit Adorno auszudrücken. Im Prinzip sind alle reformistischen Bemühungen zur Weltverbesserung innerhalb der bestehenden Herrschaftsverhältnisse zum Scheitern verurteilt. Das wurde damals ja aus keiner theoretischen Ableitung gewonnen, sondern aus einer persönlichen Erfahrung.
Julian: Als wir mit 15 angefangen haben, Musik zu machen, gehörte es zum guten Ton, politische Texte zu schreiben. Irgendwann habe ich mich davon etwas losgesagt und eher persönliche Songs geschrieben. Rückblickend fällt mir auf: Die sind natürlich politisch, weil die persönlichen Erfahrungen und Gefühle ein Spiegelbild der Gesellschaft sind. Wie viel die damalige Wut eigentlich mit Kapitalismuskritik zu tun hatte, schnalle ich jetzt erst.
Philipp: Ich bin Hardcore wahnsinnig dankbar, dass er so früh in mein Leben getreten ist und mir die Scheu genommen hat, einen kritischen Gedanken zu fassen, auch wenn er sich fundamental und radikal gegen die Verhältnisse stellt. Auf der anderen Seite merkt man natürlich mit der Zeit, dass nicht alles, was Hardcore vermittelt, eine super adäquate Analyse der Gesellschaft ist.

Einer eurer frühesten Songs, „Take heart, stay punk“, thematisiert, ob man die Ideale in sein späteres Leben integrieren kann, wenn man ein bürgerliches Leben führt. Und, hat’s geklappt?
Julian: Also ich bin verheiratet, Vater und baue gerade ein Haus, haha. Aber im Ernst: In dem Song geht es nicht darum, dass man kein Punk mehr ist, wenn man heiratet. Man sollte nur nicht unreflektiert in alle Fallen hineintappen. In gewisser Hinsicht bin ich heute sogar noch wütender als früher, nur aus einer anderen Perspektive.
Philipp: In der Soziologie wird die Pubertät als eine per se konfliktreiche Phase betrachtet. Dabei ist das deshalb so eine schwierige Phase, weil den jungen Leuten da der Idealismus gebrochen wird und dem Realismus der herrschenden Verhältnisse untergeordnet werden, damit sie ordentlich mitmachen. Der Song mahnt einen, das nicht zu vergessen. Wenn man als Erwachsener kritisch bleibt, führt man eigentlich eine Art Doppelleben. Einerseits praktisch mitmachen, damit man Geld für ein möglichst gutes Leben verdient. Und andererseits geistig nicht mitmachen und stattdessen denken: Was für ein Scheiß, dass ich hier überhaupt mitmachen muss.

Wie sieht also die Zukunft von RITUAL aus?
Philipp: Wir werden keine weiteren Konzerte spielen oder neuen Platten produzieren. Wir wollen die Band lieber als das belassen, was sie damals war – und das mit diesen Shows noch mal ganz fett unterstreichen. Dass aus dem gemeinsamen Musikmachen etwas Neues entstehen kann, ist nicht ausgeschlossen. Vieles, über das wir heute gesprochen haben, müsste man dabei einbeziehen. Also wie kann man Hardcore mit all dem machen, was man immer schon geil daran fand, aber zusätzlich auch das integrieren, worüber man in der Zwischenzeit nachgedacht hat?

Zwischen den Songs Ansagen zu machen, könnte eine Möglichkeit sein, Inhalte zu reflektieren.
Julian: Das muss dann ein Redner sein, der das wirklich gut kann. Manchmal kann so was inspirierend sein, manchmal denkt man, das hätte er besser sein gelassen.
Philipp: Ganz furchtbar sind die, die denken, sie müssten unbedingt was sagen, weil sich das im Hardcore so gehört. Die kommen dann mit gratismutigen Plattitüden, die eigentlich nur abstrakt sagen: „Hallo, wir sind übrigens politisch!“ und die sich inhaltlich schlicht dem moralischen Zeitgeist unterwerfen.