SAINT AGNES

Foto© by Scott Chalmers

Sicherheit in einer unsicheren Welt

Die vor knapp zehn Jahren von Kitty Austen und Jon Tufnell als Duo gegründete Band SAINT AGNES bringt mit „Bloodsuckers“ nach „Welcome To Silvertown“ von 2019 jetzt ihr zweites Album raus. Die mittlerweile vier Londoner haben in den letzten Jahren einen beachtlichen Wandel vollzogen – von Blues-Punk hin zu einer wahnsinnig powervollen Mischung aus Punk, Metal, Industrial und Grunge, die immer wieder an die Neunziger erinnert. Im Interview erzählen sie uns vom Entstehungsprozess der Platte und was hinter den ganzen Emotionen steckt, die die Platte ausmachen und auslöst.

Als ich euch vor einer Woche das erste Mal gehört habe, dachte ich: Wow, das sind die Neunziger! Ich habe mich an den ganzen Crossover wie bei CLAWFINGER erinnert, hörte Anteile von RAGE AGAINST THE MACHINE in den Drums und bei den Effekten, Industrial-Elemente wie bei NINE INCH NAILS und den KRUPPS und dazu eine gute Portion Grunge.

Kitty: Auf jeden Fall. Unser beider Lieblingsband sind NINE INCH NAILS, die einen sehr großen Einfluss auf uns hatten. Trent Reznor von NINE INCH NAILS ist ein sehr selbstbewusster Mensch, der seine Musik nicht nur spielt – er verkörpert sie. Genauso wie PJ Harvey, die auch ein großer Einfluss für uns war.
Jon: PJ Harvey denkt nicht nach, wem etwas wie gefällt. Sie hat eine Idee und die setzt sie einfach um und es ist, wie es ist. Das hat was ungemein Fesselndes. Wir beide sind von dem Vibe und dem Spirit, den solche Bands haben, sehr inspiriert. Jede von ihnen hat eine ganz eigene Auffassung von Rockmusik, so etwas wie einen akustischen Fußabdruck, und das, obwohl sie ja nicht unbedingt eine lange Zeit hatten, einen zu finden.
Kitty: In den Neunzigern konntest du außerdem viel experimentieren, viel mehr als heute. Es gab viele Bands, die ihre Emotionen nach außen gekehrt haben, nimm eben NINE INCH NAILS oder RAGE AGAINST THE MACHINE – die uns auch super motiviert haben. Wir haben versucht, das auf unserer neuen Platte auch rüberzubringen, was uns, denke ich, gelungen ist.
Jon: Genau das ist auch der Grund, warum wir beim Song „Follow you“ mit Sean Beavan, der die drei ersten Platten von NINE INCH NAILS produziert hat, zusammengearbeitet haben.

Bei so vielen Einflüssen – wo seht ihr euch selbst?
Kitty: Wir haben nie in ein bestimmtes Genre oder eine bestimmte Szene gepasst. Wir sind immer ein bisschen anders gewesen und waren immer etwas außerhalb dessen, was die Leute eigentlich erwarten würden. Uns geht es darum, wie wir uns ausdrücken können.
Jon: Das ist keine Sache einer bestimmten Musik, es ist der Spirit, aus dem Kunst entsteht. Nick Cave zum Beispiel ist auch ein großer Einfluss für uns – er ist gesanglich eigentlich ziemlich limitiert, schafft es aber durch seine Art, die Leute zu packen. Und Kitty hat absolut recht – wir haben die Leute immer etwas überrascht mit Dingen, die sie von uns nicht erwartet haben, aber nicht aus dem Grund, dass wir es vorhatten. Wir haben einfach gemacht, was auch immer uns zu dieser Zeit gefallen hat. Als wir angefangen haben, gab es in London ein Shoegaze-Revival und Bands wie zum Beispiel MY BLOODY VALENTINE oder THE JESUS AND MARY CHAIN. Wie sie aufgetreten sind, sah es aus, als hätten sie gar kein Interesse, dort zu sein, es war alles ziemlich statisch und der Versuch, cool zu sein. Wir haben dagegen Songs geschrieben, die Gitarrensoli hatten, einen Classic-Rock-Einfluss – und das war das Punkigste, was wir machen konnten gegenüber den Bands, die Schiss hatten, ein Riff zu spielen oder auf der Bühne richtig zu performen. Es fühlte sich ziemlich rebellisch an.

Ihr habt eure Band zunächst zu zweit gegründet. Warum seid ihr nun zu viert?
Kitty: Wir haben zu zweit angefangen und wollten so etwas wie eine „Recording-Band“ sein, die nicht sonderlich viel live spielt. Wir haben aber gemerkt, dass wir für die bombastische Wildwest-Filmmusik, die wir geschrieben haben, mehr Leute brauchen, haha.
Jon: Es war davor unser Traum, einfach in einem normalen Auto auf Tour zu gehen – ohne etwas gebucht zu haben, herumzufahren und mal hier und mal da zu spielen. Das kannst du mit einem Streichquartett natürlich nicht machen, haha.

Wenn ich mir eure erste LP „Welcome To Silvertown“ von 2019 anhöre, erinnert mich das eher an Fuzzy-Psychedelic Music wie von MONSTER MAGNET, mit denen ihr jetzt auf Tour geht. In einem Interview hast du gesagt, Kitty, mit eurem Song „Vampire“ von 2021 hättet ihr die Brücke in eine neue Ära der Band geschlagen . Ich denke, bei der EP „Family Strange“ gab es bereits ein Jahr früher einen ziemlich radikalen Bruch in Richtung eurer jetzigen Musik – warum?
Kitty: Definitiv. Bei „Welcome To Silvertown“ waren wir eine Blues-Punk-Band, die in Richtung WHITE STRIPES ging. Der Plan war damals, das Album einfach live auf ein Tape aufzunehmen und die ganze Technik wie ProTools nicht zu nutzen.
Jon: Und das war sehr schön. Wir hatten unser eigenes Label und haben das ganz für uns gemacht, es gab niemanden, der Entscheidungen für uns traf. Und das hört man der Platte an. Die Songs waren allerdings schon sehr lange vor der Aufnahme geschrieben worden. Durch unsere vielen Auftritte über ein ganzes Jahr waren wir allerdings eigentlich längst eine ganz andere Band, als „Welcome To Silvertown“ dann erschien. Wir waren einerseits sehr stolz auf das Ergebnis, andererseits war es nicht das Werkzeug, um uns richtig ausdrücken zu können.
Kitty: Ja, wir haben in dem einen Jahr bestimmt hundert Shows gespielt und niemals nein gesagt – angefangen von einer Teenie-Gartenparty in Italien bis zu riesigen Festivals im UK. Und bei den Shows haben wir gesehen, wie die Leute durchdrehen, und gesagt, dass wir genau so einen Sound dazu machen wollen. Wir wussten, wir wollten heavier und punkiger werden und uns von dem bluesigen Sound entfernen.
Jon: „Family Strange“ war dann der Anfang unserer richtigen Veränderung – als Folge dessen, dass wir diese Songs alle in diesem Jahr auf Tour in irgendwelchen Backstage-Garderoben geschrieben haben. Die Songs haben wir auch gleich live gespielt und haben gesehen, wie die Leute darauf abgehen. Das passte alles zusammen. Das haben wir dann besonders auf „Vampire“ bezogen, weil es in der Zeit des Lockdowns so war, dass super viele Menschen online in wahnsinnig narzisstischer Weise ihr Leben präsentiert haben. Wir dagegen steckten fest. Darüber wollten wir einen Song schreiben, wir fühlten uns wie Vampire, die feststecken, und andere zeigen online ihr strahlendes Leben. Genauso wollten wir den Song in einem poppigen Glanz tarnen, der textlich aber negativ und musikalisch der Tritt gegen alles war. Das war der Punk-Move, den wir damals gebraucht haben. Das hat uns verdammt Spaß gemacht und gezeigt, das wir Songs mit einem größeren oder weiteren künstlerischen Anspruch haben.

Ihr geht mit MONSTER MAGNET auf Tour, zu denen ihr früher gut gepasst habt. Kennen sie euren neuen Sound?
Kitty: Haha, das ist eine gute Frage. Ich denke schon. Als wir damals mit ihnen auf Tour waren, haben wir unsere Songs live ja auch schon viel härter gespielt, wie eben beschrieben. Zudem sind die Zuschauer in Deutschland, wo wir mit ihnen auf Tour sind, prinzipiell sehr zugänglich und heißen uns immer willkommen.
Jon: Wir beiden Bands achten uns gegenseitig sehr. Ich meine, wir waren Fans, bevor wir mit ihnen auf Tour gingen. Da wir die „Family Strange“-Songs da schon gespielt haben, wird es kein großer Schock für sie sein. Ihr Sänger Dave Wyndorf ist eine große Inspiration für uns. Wir liegen ziemlich auf einer Wellenlänge und reden über BLACK SABBATH, er mag Bands wie NINE INCH NAILS und WHITE ZOMBIE – das passt gut. Deshalb wird ihm unsere Show sicherlich gefallen.

Eure neue Platte fängt mit dem Titeltrack „Bloodsuckers“ an, der wie ein Schlag in die Fresse ist. An wen ist er adressiert?
Kitty: Es ist ein dickes „Fuck you“ an alle Menschen, die versuchen, dich zu erdrücken und zu unterdrücken.
Jon: Generell geht jede Auseinandersetzung heutzutage weiter als früher, deshalb haben wir auch diese Sprache gewählt. Angesprochen können Geschwister oder Eltern sein oder ein Lehrer, der dich in der Schule terrorisiert, dein Boss.
Kitty: Jeder kann so einen „Bloodsucker“ im Hirn stecken haben, der dir deine Energie raubt, so dass du dein Leben nicht nach vorne orientiert leben kannst.

Und an wen ist eure ganze Platte adressiert?
Kitty: Ich hatte 2021 eine sehr harte Zeit. Meine Mutter ist unerwartet, ziemlich tragisch und schnell gestorben. Ein paar Wochen später haben wir mit den Aufnahmen begonnen, ich brauchte etwas, in das ich meine Emotionen stecken konnte. Ich habe davor sehr unter der Pandemie gelitten, habe mit meiner Psyche gekämpft und schlicht die Bodenhaftung verloren. Es ist sehr viel Emotion und Wut enthalten. Das Album ist wohl an all jene gerichtet, die selbst ebenso durch harte Zeiten gehen. Aber genauso wichtig ist mir, dass etwas Positives aus dem heraus entsteht. Etwas, das die Leute verbindet. Ich denke, in den letzten Jahren hatten viele mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen – und an diese Menschen ist es adressiert.
Jon: Für mich ist es eine ziemlich strange Sache. Das Schöne an guter Kunst ist, dass es sehr authentisch ist und einen realen Hintergrund hat. Mein Part im gemeinsamen Songschreiben war es, Kitty genug Platz und die Möglichkeit zu geben, sich so offenbaren zu können. Es ist völlig verständlich, wenn Leute sagen, sie wollen auf einer Platte nur Spaß machen. Es ist aber ein künstlerischer Traum, mit so etwas Rohem und Authentischem zu arbeiten. Wir beide haben oft zu zweit aufgenommen und es war heftig, mit den Kopfhörern und ihr den Rücken zugewendet dazustehen, ohne zu wissen, was kommt, und dann zu hören, wie sie singt – und wenn es super war und ich mich dann umgedreht habe, um die Daumen nach oben zu strecken, zu sehen , wie Kitty schwitzend auf dem Boden liegt. Es war einerseits total schmerzlich, das zu sehen bei jemandem, der mir so wichtig ist. Andererseits war es sehr inspirierend für mich und eine Aufforderung, jetzt einen verdammt guten Gitarrenpart einspielen zu müssen, haha. Die Backing-Vocals einzusingen, war dann auch noch eine wahnsinnige Herausforderung nach dem, was Kitty vorgelegt hatte.

Ich hatte beim Hören der Platte und bei den Texten den Eindruck, dass es neben der Wut und der Aggression aber auch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.
Jon: Das ist auch das, was Fans uns auf den Konzerten oft sagen – es sei bei uns so etwas wie ein Zuhause, dass ihnen Sicherheit gibt in einer Welt, die völlig unsicher ist, und das wollten wir auf diesem Album ausdrücken, ja.

Neben eurer Musik ist das Artwork der Platte total beeindruckend. Was steckt hinter dem Coverfoto?
Kitty: Auf den Künstler bin ich über Sängerin und Musikerin Alice Glass gekommen. Als ich Fotos einer ihrer Platten-Promos gesehen habe, war mir klar, dass ich mit dem Künstler Astra Zero, der dahintersteckt, arbeiten will. Ich habe dann online mit ihm Kontakt aufgenommen, sein richtiger Name ist Dustin. Ehrlich gesagt habe ich keine Sekunde lang gedacht, dass er mit uns arbeiten wird, da er ziemlich erfolgreich ist. Er hat sich aber sofort gemeldet und war total interessiert. Wir haben ihm dann Fotos von uns geschickt, die unser Freund Scott Chalmers gemacht hat.
Jon: Er hat sie digital bearbeitet. Die Aufgabe war darzustellen, wie Kitty das ganze Negative, das das Leben bieten kann, überwindet. Es war für uns wie ein sportlicher Wettbewerb – du musst über dich herauswachsen, dein Ziel vor Augen haben und alles dafür tun, um es zu erreichen. Aus dem Grund sieht Kitty auf dem Cover so abgekämpft, angeschlagen und zerschrammt aus.
Kitty: Es hat so den Touch eines Gladiators, der den Kampf gewonnen hat – was du auch an den Andeutungen der goldenen Flügel siehst.
Jon: Und das ist auch der Grund, warum das „Bloodsuckers“-Video diesen sportlichen Look hat. Wir lieben es, als Band eine Gang zu sein, so etwas wie ein Sportteam – was auf eine bestimmte Art einfach dasselbe sein kann.