FOOD SPECIAL: Fleisch - eine kleine Geschichte

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Fleisch kommt aus dem Supermarkt. Jedenfalls scheint unser Nahrungsmittel Fleisch heute nicht mehr von einem lebendigen Wesen zu stammen. Oder, mal ehrlich, wer fühlt sich noch an ein Tier erinnert, wenn er dessen Teile steril in Kunststoff eingeschweißt aus der Kühltheke im Supermarkt nimmt? Oder besser noch, wer würde es noch essen bei dem Gedanken daran, von welchem Teil des Tieres dieses Stück stammt, wie dieses gelebt hat und schließlich geschlachtet und verarbeitet wurde? Wohl die wenigsten. Kein Wunder also, dass die Industrie alle möglichen Anstrengungen unternimmt, diesen Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, um ihren Fleischabsatz aufrecht zu erhalten.



Aus einem natürlichen Produkt wird ein scheinbar industrielles Erzeugnis. Fleisch soll möglichst wenig Beachtung beigemessen werden, wie anderen, nichttierischen Handelswaren auch. Und das, um uns vergessen zu lassen, ein Teil eines Lebewesens in den Händen zu halten, das uns Menschen doch gar nicht so unähnlich ist.

Fleisch zu essen sei doch eine natürliche Sache, lautet oftmals die Rechtfertigung für den eigenen Fleischkonsum. Ja, Fleischessen ist natürlich. Fleisch zu essen war einmal natürlich. Denn natürlich wäre es, Bertram mit den großen Kuhaugen ein paar Jahre liebevoll zu umsorgen, ihm dann das Fell über die Ohren zu ziehen, um ein paar Tage später eine deftige Scheibe seines Hinterteils auf dem Teller zu haben. In unseren Ohren klingt das heute brutal. Und dabei sind das Blutbad und die Leerung des noch mit dampfenden, warmen Gras gefüllten Magens in eine Schubkarre schon ausgeblendet. Bertram hatte sicherlich ein paar schöne Jahre, draußen auf der Wiese. Schön, im Gegensatz zu den Rindern, die ein einziges Jahr auf zwei verdunkelten Quadratmetern verbringen dürfen, damit ihr zartes hellrosa Fleisch für großartigen Geschmack gelobt wird, welches bei Tageslichteinfall und etwas Bewegung nämlich rot und wesentlich zäher ausfallen würde. Eben dieses Fleisch, das wir für einen Spottpreis kaufen. Das Verschwinden tierischer Merkmale ist schon im Preis inbegriffen. Wer vom Land, oder gar vom Bauernhof kommt und noch die gute Küche der Oma genießen durfte, dem wird bereits aufgefallen sein, dass dieses Fleisch mit den großen Stücken am Knochen, dem Schweineohr in der Suppe oder dem riesigen Eisbein auf dem Teller nicht mehr viel gemeinsam hat. Alle tierischen Merkmale wie Adern, Blutgefässe oder Knochen sind bereits abgeschnitten, die Fasern zumeist unter Marinaden und Gewürzkrusten versteckt, begründet mit der Geschmacksverfeinerung. Ganz zu schweigen davon, dass Gerichte wie gebratenes Rinderhirn, Nierengulasch oder Blutsuppe, die einst als delikat galten, wohl zum Aussterben verdammt sind.

Vor einigen Monaten sorgte der Dokumentarfilm "We Feed The World" für reichlich Empörung. Dabei zeigt er nichts außer der alltäglichen Realität unserer Nahrungsmittelproduktion, den "Kompromissen", die wir eingehen, um uns preisgünstig satt zu essen. Also nichts, von dem wir eigentlich nichts wüssten. Ein jeder sollte sich schon mal die Frage gestellt haben, wie es möglich ist, ein Hähnchen, das aufgezogen, gefüttert, geschlachtet und verarbeitet wurde, an der Braterei für nur zwei Euro zu kaufen. Die Frage beantwortet sich von selbst. Doch die Antwort, die möchte man besser doch nicht hören. "Sie sind die selben Objekte der industriellen Logik, die Gummi in Autoreifen verwandelt", schreibt Markus Kohlwetter in einem Artikel über den Film in der "Zeit". Das Gummi sind die Tiere, die Autoreifen das Fleisch. Aber ist das nicht ein und dasselbe?

Schaut man sich in der Stadt etwas genauer um, sieht man, dass da, wo mal eine Metzgerei war, plötzlich ein neues Geschäft eröffnet hat. Der Geruch von Fleisch und der Anblick roher Tierteile in der Auslage erinnern daran, woher das Fleisch stammt. Allein das Wort "Metzger" oder "Schlachter" erzählt gleichzeitig von einer blutigen Verarbeitung. Deshalb sprachen auch Fleischerverbände die Empfehlung aus, diese Läden in "Fleischerei" oder "Fleischwarenhandlung" umzubenennen. Nur so lässt sich die Assoziation mit dem lebenden Tier und dem Schlachten so gut es geht vermeiden. Stattdessen wird sich auf das fertige Produkt, das Fleisch, bezogen. Tier und Nahrung werden getrennt, obwohl sie doch eigentlich dasselbe darstellen. Der Fleischerfachverband befürchtet übrigens, dass in den nächsten Jahren mindestens ein Viertel aller noch bestehenden Metzgereien schließen müssen. Das Fleisch im Supermarkt erinnert eben nicht mehr so sehr an ein Lebewesen wie das in der Schlachterei. Gut verpackt wirkt das Hähnchen in der Gefriertruhe genauso unschuldig wie das Kaisergemüse daneben.

Die menschliche Zeitrechnung beginnt nicht an dem Punkt, an dem man beweisen kann, dass es den Menschen gibt, sondern wird mit dem Erscheinen des ersten Jägers festgelegt. Eine Art Affenmensch, wie es auch der Jäger war, ist zu einem viel früheren Zeitpunkt nachweisbar. Der heutige Mensch kann sich mit dem Affenmenschen nur schwer identifizieren. Wohl aber mit dem Jäger. Die Erklärung ist recht simpel: Das Jagen weist auf die wichtigste menschliche Eigenschaft hin, durch die der Mensch sich letzten Endes vom Tier unterscheidet: den menschlichen Intellekt. Indem der Mensch in der Lage ist, Zusammenhänge zu konstruieren, also weiß, dass er mit einem Steinwurf ein ihm körperlich überlegenes Tier töten und somit an dessen Fleisch gelangen kann, und so seinen Hunger stillt, hat er dem Tier einiges voraus. Diese Eigenschaft lässt ihn zum Ende der Nahrungskette werden. Er definiert sich dadurch als Mensch, da ihn dies vom Tier unterscheidet und ihm dieses unterlegen ist. Folglich kommt er zu dem Schluss, die Natur sei dem menschlichen Wohle bestimmt und er könne unbegrenzt aus ihr schöpfen. Der Mensch beginnt, sich seine Nahrungsvorräte zu sichern, indem er sich Pflanzen anbaut und Tiere domestiziert. Er bestimmt über dessen Bestand und Lebensdauer und wird zum scheinbaren Verwalter der Natur. Der Stierkampf ist ein Beispiel, welches den Sieg des menschlichen Intellektes über die rohe Kraft der Natur noch heute öffentlich zur Schau stellt. Das Jagen und der Konsum von Fleisch bestätigten den Menschen in seiner Überlegenheit.

Lange Zeit galt man in der Gesellschaft als hoch angesehen, wenn man das größte, wildeste Tier zu erlegen wusste. Außerdem waren die Menschen der Meinung, der, der das größte Stück des wildesten Tieres aß, müsse dadurch auch über dessen körperliche Stärke verfügen. Der Konsum von Fleisch ist in der Geschichte eng mit der eigenen Definition des Menschen verknüpft. So auch in der Gesellschaft. Sammelten Frauen und Männer in der Urzeit gleichberechtigt Pflanzen, wurde der Mann nun aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit zum Jäger. Somit hatte er auch die Macht über die begehrten Fleischvorräte und gleichzeitig über die Frau. Heute ist es oft noch üblich, dass der "Hausherr" den Sonntagsbraten anschneidet oder im Sommer vorm Grill steht. Dabei gilt das Kochen traditionell doch eher als Frauensache. Der Mensch passt sich seiner Umgebung an. Die Jagd machte den Mann zum Mann, denn sie erforderte die Eigenschaften, die der Mann durch sie erlangte: Härte, Stärke und Kühnheit. Eigenschaften, die noch heute als männlich gelten. So mag es vielleicht wie das Gerede einer Emanze klingen, aber es ist alles andere als an den Haaren herbeigezogen, wenn man behauptet, der Mann identifiziere sich mit dem Bild des Jägers. Die Pornografie ist heute noch voll solcher Metaphern. Der Mann sieht sich in der Rolle des eisernen Jägers, die Frau wird dargestellt als Beute, Stück Fleisch oder als wildes Tier, das es zu zähmen gilt. Wenn Sex den Mann als guten "Aufreißer" bestätigt, wird man verstehen können, dass das Verspeisen der Beute, dem Fleisch, früher den Menschen als guten Jäger in seiner menschlichen Überlegenheit der Natur gegenüber, bestätigt hat.

Auch der Adel oder später die Industriellen stellten ihre Überlegenheit zur Schau, indem sie Fleisch konsumierten. Während sich die arbeitende Bevölkerung fast bis zum Eintreten des Wirtschaftswunders in den 1950ern nur selten Fleisch leisten konnte, konsumierten die Reichen das begehrte Nahrungsmittel in gleich mehreren Gängen pro Mahl. Fleisch gilt in der Geschichte auf vielen Ebenen als Symbol von Macht und Andersartigkeit. Das darwinistische Denken der Menschen wiederum rechtfertigt den Fleischkonsum. Der Glaube daran, der Überlegene zu sein, lässt die Frage nach dem Recht oder Unrecht ein anderes Lebewesen für seine Zwecke zu töten, gar nicht erst aufkommen.

Erst im Zuge der Industrialisierung beginnt sich dieses Denken zu ändern. Die Menschen ziehen vermehrt in die Städte. Der Kontakt zu den Tieren und auch der alltägliche Anblick der Hausschlachtungen auf dem Land werden unterbrochen. Stattdessen hält man sich Haustiere zur Gesellschaft. Das eine Tier bekommt also einen Namen, ihm wird ein Charakter, ähnlich dem eines Menschen, zugesprochen. Dem anderen Tier wird derselbe wie auch die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, abgesprochen. Das Haustier soll also ein Subjekt sein, während ein Schlachttier ein Objekt ist? Diese nichtvorhandene Logik rückt ins Bewusstsein. Naturkatastrophen und Seuchen tragen außerdem dazu bei, das Bild des Menschen als Herrscher der Natur in Frage zu stellen. Dichter und Denker der Aufklärung verehren die Natur plötzlich aufgrund ihrer Vollkommenheit und Schönheit, anstatt sich ihr überlegen zu fühlen. Das Vorhandensein von Machtstrukturen überhaupt wird durch die Ausbeutung der Arbeiter von den Industriellen in Frage gestellt. Im Ganzen beginnt der Mensch seine eigene Überlegenheit zu hinterfragen. Dies zieht auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit, ein Lebewesen als sein Nahrungsmittel anzusehen und dafür zu töten, nach sich. Kein Wunder also, dass in eben dieser Zeit die ersten Vegetarierbünde in England entstehen und Arbeiter als Symbol gegen die Unterdrückung ausgerechnet auf das begehrteste Lebensmittel komplett verzichten. Zu dieser Zeit hat es übrigens in London nachweislich mindestens zwei vegetarische Restaurants gegeben.

Die stark gewachsene Stadtbevölkerung kann allerdings schlecht als Selbstversorger leben. Möglichst kostengünstig muss jetzt das Vielfache an Nahrung produziert werden. Und das heißt vor allem Fleisch. Die Vorläufer der ersten Mastbetriebe und riesige Großschlachtereien entstehen. Das Schlachten und die Verarbeitung von Fleisch wird immer mehr an den Rand des urbanen Lebensraumes gedrängt und verschwindet fast komplett aus den Augen der Menschen. Die industrialisierte Fleischproduktion machte das Fleisch billig und schließlich für jedermann erschwinglich. Seit dem Weltwirtschaftswunder kann sich erstmalig jeder den täglichen Konsum von Fleisch leisten. Ein Privileg, das der arbeitende Mensch Hunderte von Jahren angestrebt hat und auf das er nun nicht mehr verzichten möchte.

Die Massentierhaltung ist heute die Voraussetzung dafür, den Fleischkonsum überhaupt aufrechterhalten zu können. Um Fleisch also im Abstand der Realität überhaupt genießen zu können, bezieht der Mensch sich auf das Endprodukt Fleisch und versucht gleichzeitig, dessen tierische Herkunft zu verdrängen. Natürlich ist ein jeder über die großen Mastanlagen, die quälerischen Lebensbedingungen der Tiere, die mangelnde Fleischqualität und die Skandale informiert. Aber würde das Fleisch bei den Gedanken daran noch schmecken? So ist es doch einfacher, nicht bei jedem Bissen daran erinnert zu werden.

"Du bist, was du isst", sagte Ludwig Feuerbach irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts. Geschmack hat wenig damit zu tun, wie eine Sache wirklich schmeckt. Geschmack bringt die Zugehörigkeit eines Kulturkreises zum Ausdruck. Geschmack ist also wandelbar und eine Gewohnheit. In China essen sie Hunde. Die würden bei uns kaum jemandem schmecken. Ein Hund in Europa hat einen anderen Status. Eine Kuh zu verspeisen gilt hierzulande als selbstverständlich. Ein Inder wiederum würde sich allein bei dem Gedanken daran wohl erbrechen müssen, stellt eine Kuh für ihn doch ein heiliges Symbol dar. Durch das, was wir essen, bekennen wir uns unserem Kulturkreis als zugehörig. Kaum etwas ist so von Regeln und Riten geprägt, wie das Essen und seine Zubereitung. Es ist bis ins Detail festgelegt, was wann und zu welcher Gelegenheit in den Topf wandert oder auf den Tisch kommt. Ein Staatsempfang mit Spaghetti Bolognese würde wohl ähnlich lächerlich erscheinen, wie ein studentisches Sit-in mit Sauerbraten und Rotkohl. Durch die Art der Nahrung lässt sich immer auch auf seinen Konsumenten schließen, in welchem Kulturkreis sich dieser bewegt oder gern bewegen möchte. Ein Vegetarier lehnt nicht nur zufällig jene Machtstrukturen ab, die mit dem Konsum von Fleisch symbolisch verbunden sind. Er hat in den meisten Fällen ein anderes Verhältnis zur Natur als ein Großagrarbesitzer, der diese als Quelle seines Profits ansieht.

Je urbaner der Mensch seinen Lebensraum gestaltet, desto zivilisierter wird auch seine Nahrung. Mit der Möglichkeit, sich erstmals seit rund fünfzig Jahren jegliche erdenkbaren Nahrungsmittel überhaupt leisten zu können, kann der Mensch aus allen Töpfen essen. Nahrung spiegelt heute deshalb keine gesellschaftliche Schicht mehr wider, sondern die Individualität seines Konsumenten. In der heutigen Gesellschaft gilt es als erstrebenswert, möglichst intellektuell und zivilisiert zu wirken. Den menschlichen Trieben zu folgen gilt hingegen als unreflektiert und unzivilisiert, in der Sexualität wie auch beim Essen. Ein Mensch, der ein Tier schlachtet und dieses in großen, blutigen Stücken verspeist, kommt heute in unseren Augen fast schon dem Bild des früheren Kannibalen gleich. Jemand, der ein Hähnchen aufwändig zubereitet, gibt hingegen das Bild eines zivilisierten Menschen ab. Obwohl beide dasselbe Tier essen, wird Ersterer als gierig und unangenehm empfunden.

Wir gestalten unsere Umgebung, also designen wir nach denselben Maßstäben auch unser Essen. Oder hat sich jemand schon mal gefragt, warum ausgerechnet Sushi in der Generation iPod plötzlich total angesagt ist? Vergleicht man ein altes Tonbandgerät mit einem Saumagen, so sieht eine Portion Sushi fast schon aus wie der neue iPod shuffle - urban, von Menschen gestaltet, also zivilisiert.

Aber ist es auch zivilisierter, die Lebensdauer eines Tieres dem Nahrungsmittelpreis anzupassen, Lebewesen an den Rand des eigenen Lebensraumes mit tausend anderen in eine Halle zu pferchen und dann so zu tun, als wüssten wir nicht davon? Ist es besonders reflektiert, sich das Ganze dann im Kino anzusehen, entsetzt zu reagieren und schon beim nächsten Gang in den Supermarkt die Verbindung nicht mehr herstellen zu können? Oder sieht es nur zivilisiert aus, ein Stück Wurst aus einer Verpackung zu nehmen, bei der die Farbe Rot in der Aufschrift schon lange gemieden wird, weil sie doch an Blut und somit an das Schlachten und das Leben erinnert und die deshalb mit grünen Blättern bestückt wurde, da dieses doch für Natur und Frische steht, und so zu tun, als handele es sich dabei um Käse? Ist nicht in Wahrheit doch der der Zivilisierte, der das Blut am Messer und an den Händen hatte, die Innereien isst, anstatt sie in den Müll zu werfen oder als Tierfutter zu verarbeiten, weil er weiß, dass sein Tier das Grün auf der Verpackung live gesehen hat, anstatt einen Pflanzenfresser, also Vegetarier, zu zwingen, Fleisch zu essen oder es gar zum Kannibalen zu machen?

Wir sind schon seltsame Tiere, wir Menschen ...



 

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