NATHAN GRAY

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Goodbye Schwermut-Forest

Mit seiner Band BOYSETSFIRE feiert Nathan Gray vor allem in Deutschland große Erfolge. Die letzten beiden Alben gingen weg wie warme Semmeln und die Tour zum 25-jährigen Bandjubiläum war fast überall ausverkauft. Mit seinen Soloalben war der BSF-Sänger bislang immer noch auf der Suche nach dem richtigen Sound. Er hat einiges ausprobiert: Dark Wave, Elektro oder Unplugged. Mit dem neuen Album „Working Title“ scheint diese Suche für den Musiker aus Newark, Delaware beendet zu sein.

Working Title“ klingt wie eine Punkrock-Platte. Hast du damit den perfekten Sound für deine Songs gefunden?


Das kann man so sagen. Es ist wirklich lustig, denn inzwischen bin ich wieder bei dem Sound angekommen, den wir vor zehn Jahren bei THE CASTING OUT hatten. Es geht also zurück, aber auf eine neue Art. Ich hatte das Gefühl, dass ich in all meinen anderen Projekten immer auf der Suche war und jetzt bin ich bei meinen Wurzeln fündig geworden. Es ist ein wirklich positives Punkrock-Album geworden.

Warum ist das neue Album viel optimistischer als deine anderen Soloalben? Fühlst du dich momentan wohler als bislang?

Das ist tatsächlich so. Der Entstehungsprozess des letzten Albums „Feral Hymns“ hat mich an diesen Punkt gebracht. Ich konnte eine Menge Dinge ausgraben und verarbeiten, die mich lange ausgebremst haben. Ich habe dunkle Zeiten erlebt, die ich mit „Feral Hymns“ hinter mir gelassen habe. Erst dadurch war ich in der Lage, den nächsten Schritt zu gehen.

Warum sind deine Solo-Songs viel persönlicher als die von BOYSETSFIRE, die ja in der Regel sehr politisch sind?

In meinen Solo-Songs will ich anders an politische Themen herangehen. Und zwar indem ich mich auf persönliche Aspekte konzentriere. Denn aus der Innensicht entstehen die meisten politischen Inhalte. Am Ende des Tages können wir über Politik erzählen, was wir wollen. Aber erst wenn es uns gelingt, die Menschen zu verändern, wenn wir die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen, wenn wir die Menschen dazu inspirieren können, leidenschaftlicher und mitfühlender zu sein, wenn wir die Menschen dazu bringen, sich mehr um sich selbst zu kümmern, wenn wir so Wut und Hass besiegen können, dann fangen wir an, eine gesündere Gesellschaft zu schaffen. Und die bringt dann auch eine gesündere Politik hervor.

Wenn wir schon über Politik reden. In einem früheren Ox-Interview habe ich gelesen, dass du Mitglied in der kommunistischen Partei in den USA warst. Ist das noch so?

Das war, als ich Anfang zwanzig war, jetzt bin ich 47 Jahre alt. Ich war vielleicht ein oder zwei Jahre lang Mitglied. Damals war ich einfach auf der Suche nach einer Gemeinschaft, die meinen Idealen entspricht. Es gab definitiv Gemeinsamkeiten, aber es war ein sehr enger, geschlossener Zirkel. Die Bewegung oder Organisation zu hinterfragen, das war nicht erwünscht. Da wollte keiner diskutieren, ob man gewisse Dinge auch anders gestalten kann. Es gab immer nur Ansagen, wie es gemacht werden soll. Das war mir zu autoritär. Deshalb wollte ich dieser sehr strammen Organisation nicht mehr angehören. Das war auch mein letzter Versuch, mich in politischen Parteien zu engagieren. Seitdem ziehe ich es vor, ein Freigeist zu sein.

Lass uns über ein paar Songs reden. Mir gefällt am besten „Never alone“. Worum geht es darin?

Ich liebe diesen Song auch besonders, deshalb ist er die zweite Singleauskopplung. Es geht um sogenannte Safe Spaces, also Rückzugsorte für Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen. Solche Orte gibt es vor allem an Universitäten oder an Arbeitsplätzen. Genutzt werden sie vor allem von Schwulen, Lesben oder religiösen Minderheiten. Beim Surfen im Internet bin ich auf Leute gestoßen, die sich sehr negativ über diese Safe Spaces geäußert haben. Es hat mich sehr schockiert, dass sich Leute darüber aufregen oder sogar lustig machen. Für mich zum Beispiel war die Hardcore- und Punk-Szene immer so ein Safe Space. Ein Umfeld, in dem man sich sicher fühlen und entfalten konnte. „Never alone“ feiert also Safe Spaces und die Möglichkeit, einen Ort zu haben, an dem man Gleichgesinnte treffen und seine Emotionen auf positive Art ausleben kann. Denn das hilft einem dabei, ein ausgeglichenerer Mensch zu werden.

Ein anderer Track, der einen ähnlich positiven Vibe hat, ist „Still here“. Worum geht’s hier?

Ich verwende in diesem Song das Bild, mich von einem Autounfall zu erholen. Denn so fühle ich mich auch, nachdem ich die Tiefen einer sehr düsteren Zeit durchschritten habe. Das war, kurz bevor „Feral Hymns“ entstanden ist. „Still here“ bezieht sich auf den Moment, an dem ich realisiert habe, dass ich immer noch hier und am Leben bin. Es ist eine sehr wichtige Erkenntnis für mich, dass ich nicht aufgegeben habe. Ich hatte lange mit der Verarbeitung meiner Vergangenheit zu tun. Als Kind wurde ich sexuell missbraucht und erst in meinen Vierzigern war ich in der Lage, darüber zu reden. Ich befand mich in einem völlig desolaten Zustand und war dabei, mich ganz langsam umzubringen. Ich hatte schwere Depressionen und bin einfach nicht mehr von der Couch hochgekommen. Da bin ich zum Glück irgendwann an den Punkt gekommen, an dem ich Hilfe angenommen habe und angefangen konnte, mir alles von der Seele zu reden. Das alles hat den Song „Still here“ inspiriert.

Bei der ersten Single „Working title“ gibt es einen Gastauftritt von Chuck Ragan von HOT WATER MUSIC. Wie ist es dazu gekommen?

Es hat sich einfach richtig angefühlt, dass er diesen Song mit mir gemeinsam singt. Ich habe ihn also einfach angeschrieben, ob er Interesse hätte, und er hat mich sofort angerufen und gesagt: Ich bin dabei! Ich habe ihm dann kurz erklärt, worum es in dem Song geht und habe ihm den Track geschickt. Er hat sich dann Gedanken zum Refrain und den Strophen gemacht und ich bin sehr glücklich über seinen Beitrag. Er hat den Song noch besser gemacht.

„Working Title“ ist ja auch der Name des Albums. Das klingt, als wäre die Arbeit daran noch nicht abgeschlossen.

Keine Kunst ist jemals absolut fertig und das sollte sie auch nicht sein. Als ich zum ersten Mal Leuten davon erzählt habe, dass ich das Album „Working Title“ nennen möchte, haben sie gesagt: Großartig. Und wie soll es heißen? Nein, nein, es soll „Working Title“ heißen. Und die dann so: Also echt jetzt. Wie soll das Album heißen? Haha! Für mich war das wie ein lustiges Spiel, dass die Leute zuerst dachten, ich wollte sie veräppeln. Denn der Ausdruck „Working Title“ steht natürlich für ein unvollendetes Werk. Für mich steht der Name aber auch für die Inspiration eines Künstlers, immer weiterzumachen und seine Reise fortzusetzen. Sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es keine Bestimmung oder Richtung gibt, sondern dass es eine permanente Entdeckungsreise ist.

Im Februar gehst du mit deinem neuen Album auf Tour. Zum ersten Mal performst du deine Solo-Songs mit einer kompletten Band. Im Studio waren unterer anderem der BOYSETSFIRE-Bassist Chris Rakus und der SISTERS Of MERCY-Gitarrist Ben Christo dabei. Wer begleitet dich live?

Ben hat mich schon bei anderen Soloprojekten begleitet. Er wird wieder die Leadgitarre spielen. Außerdem leihe ich mir drei Musiker von der Band von Norbert Buchmacher aus. Er ist ja sowieso Teil des Programms.

Neben Norbert Buchmacher begleiten dich noch SWAIN und Matze Rossi. Alles Labelmates von deinem Label End Hits Records. Warum hast du dich für diese Support-Acts entschieden?

Wir wollten ein ganzes End Hits-Paket schnüren. Wir haben lange überlegt, welche unserer Acts am besten zusammenpassen würden. Wir wollten eine gewisse Vielfalt im Sound kombinieren. Aber allen Künstlern gemeinsam ist dieser positive Vibe, ein gutes Gefühl auf der Bühne. Auf meiner Tour wollte ich mich einfach mit diesem Spirit umgeben.

Wird deine Begleitband weiter existieren, wenn die Tour vorbei ist? Oder ist das eine einmalige Angelegenheit?

Das steht noch nicht fest, aber es geht natürlich vor allem um meine Songs. Wenn ich ins Studio gehe, schreibe ich alles selbst und versuche, so viel wie möglich auch selbst zu einzuspielen. Und für alle anderen Dinge habe ich eine Handvoll Freunde, die mir jederzeit gerne helfen, wenn sie gebraucht werden. Wenn ich also in den Staaten Konzerte spiele, wird die Band komplett anders aussehen. Ich werde erst mal mit vielen Variablen arbeiten, bis ich in der Lage bin, eine Vollzeitband zu beschäftigen und zu ernähren. Mein Fokus liegt also momentan nicht auf meiner Backing-Band. Mir ist es aber wichtig, dass ich keine Leute engagiere, die nicht meine Freunde sind.