ANTI-FLAG

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Das Vermächtnis des Punkrock

Schon immer mehr als nur Musik – ANTI-FLAG bieten mit ihrem ersten Konzeptalbum einen musikalischen Aktivismus-Rundflug in elf Etappen an. Von Kapitalismuskritik bis Klimazerstörung reicht das Spektrum, man bleibt sich treu. Welchen Anteil die Pandemie daran hatte und warum grundsätzlich Grund für Optimismus besteht, erzählen uns Justin Sane und Chris #2.

Lies They Tell Our Children“ wirkt, als hättet ihr während der Pandemie mehr Zeit gehabt für Themen und Lektüre, die sonst auf Tour vielleicht zu kurz kommen. Inwiefern war eure Herangehensweise an das Album diesmal anders als sonst?

Chris: Ja, das ist absolut richtig, wir hatten endlich Zeit. Das hat dazu geführt, dass das Konzept der Platte viel tiefgründiger ist als bei den letzten. Die Partnerin unseres Drummers Pat ist Ärztin, die viele COVID-19-Patienten behandelte. Justins Vater hingegen ist schon über achtzig. Er hat sich um ihn kümmern können, weil wir nicht auf Tournee waren. Wir haben uns alle also nur virtuell getroffen und das war für uns ist keine wirklich konstruktive Art, kreativ zu arbeiten. Also haben wir uns bewusst dazu entschieden, vorerst keine Musik zu machen und mit dem Album erst anzufangen, wenn wir wieder physisch zusammen in einem Raum sein können. Aber du hast absolut recht. Es gab eine Menge Selbstanalyse und eine Menge Lektüre, um zu verstehen, wie wir als Gesellschaft hierher gekommen sind. Und mit diesen Impulsen entstand die Basis für das Album. Das ist im Grunde das Konzept des Albums: Hier sind diese elf Themen, die unsere Gesellschaft im Jahr 2022 plagen. Wenn man wissen will, wie wir hierher gekommen sind, ist das eigentlich eine relativ junge Geschichte, dass Konzerne beschlossen haben, im Interesse des Profits zu arbeiten und nicht im Interesse der Menschen. Daher die Klimakrise, daher die Krise im Gesundheitswesen, die wir haben. Die Wohnungskrise. Und eine grundlegende Ungerechtigkeits- und Justizkrise. Und so vieles davon entspringt dem Bedürfnis des Kapitalismus nach Expansion um jeden Preis.
Justin: Ich glaube, die Ermordung von George Floyd hat viele Amerikaner dazu gebracht, sich zu fragen, wie wir als Gesellschaft dorthin gekommen sind, wo wir heute stehen. Und ich glaube, viele weiße Amerikaner mussten sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass dieses Land auf Basis weißer Vorherrschaft gegründet wurde. Dass Rassismus systemisch ist. Es ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit, es ist ein systemisches Problem. Wir als Band haben vielleicht einen kleinen Wissensvorsprung, aber jeder kann dazulernen, etwas Neues lernen.
Chris: Es geht auch nie darum zu sagen, ich wusste das schon vorher. Es dreht sich immer um die Frage, warum es so weit kommen musste, damit die Leute aufmerksam werden. Und das ist ein merkwürdiger Aspekt jeder empathischen Politik, die wir betreiben. Dass wir zu oft die Macht einer Struktur ausführen, die uns arbeiten und verzweifelt nach dem streben lässt, was uns am wichtigsten scheint, sei es monetär, sei es emotional. Dass dieser Hunger und diese Verzweiflung, mit denen die meisten Menschen tagtäglich leben, uns nicht den Raum geben, den wir brauchen, um zu lernen, wie wir auf eine empathischere Weise leben können. Worauf ich hinaus will, ist, dass die Menschen unermüdlich in einem Job arbeiten, der sie nicht erfüllt. Sie haben keine Zeit in ihrem Alltag, diesen Kreislauf zu durchbrechen, weil sie dafür sorgen müssen, dass ihre Kinder zur Schule gehen können, oder sie für dieses Gesundheitssystem bezahlen müssen. Wir haben diese immensen Nachteile, diese riesigen Gewichte um den Hals der Menschen. Und deshalb gibt es in den USA so wenige Menschen, die in der Lage sind, über den Tellerrand hinauszublicken und die Auswirkungen ihrer Kauf- oder Essgewohnheiten auf den Planeten und dergleichen zu betrachten, weil man sich nur Sorgen um den morgigen Tag macht oder ob man den Bus verpasst und zu spät zur Arbeit kommt. Und wenn du zu spät zur Arbeit kommst und du bekommst nicht deinen vollen Lohn, dann stehst du morgen vielleicht auf der Straße. Und dieses Maß an Verzweiflung ist für viele immens. Wir bemühen uns also, bessere Wege zu finden, um Informationen und Wissen weiterzugeben, damit wir unsere Nachbarn nicht für ihren mangelnden Aktivismus oder ihr fehlendes Wissen über die Geschehnisse verurteilen, sondern stattdessen versuchen, alles mit ihnen gemeinsam zu tragen.

Euer Bandkollege Pat hat eure Konzerte mal mit politischen Kundgebungen verglichen. Müssen die Besucher eurer Shows überhaupt noch überzeugt werden? Chris, du bist ja total eloquent, warum hältst du keine Vorträge an Unis oder in Schulen?
Chris: Mega Idee! Nun, zunächst einmal ist es nicht verkehrt, wenn man sozusagen vor dem Chor predigt. Ich finde die Idee toll, dass manche Leute in die Kirche gehen, weil sie versuchen, einen gewissen Glauben an die Menschheit zu finden. Ich glaube, unsere Kirche ist Punkrock und die Punkrock-Show, weißt du, und das gibt den Leuten das Gefühl, dass es eine Gemeinschaft gibt, die sich darum schert, andere Menschen gut zu behandeln, einfühlsam zu sein. Es macht mir übrigens nicht besonders viel Spaß, vor einer Klasse zu sprechen. Aber es macht mir sehr viel Spaß, in einer Band zu sein und diese Ideen zu teilen. Ein bisschen egoistisch denke ich, dass ein großer Teil unserer Belohnung aus der Interaktion mit anderen Menschen kommt, wenn wir alle so leidenschaftlich für etwas einstehen.

Justin, du hast in einem früheren Interview gesagt, dass du trotz allem immer noch Optimist bist und aus Neugier gerne einmal hundert Jahre in die Zukunft reisen würdest. Was würdet ihr euren Kindern erzählen? Was muss sich ändern, damit die Welt nicht bald wie ein „Mad Max“-Film aussieht?
Justin: Ich stehe dazu! Wir sind jetzt seit drei Jahrzehnten eine Band und haben gesehen, dass Dinge besser werden können. Ich weiß, dass es manchmal wirklich schwer ist, vor allem, wenn man die rechte und neoliberale Politik sieht, die gerade auf der ganzen Welt passiert, und wenn man auf die Klimakrise schaut. Wenn ich also überlegen würde, was im Moment unser größte Problem ist? Was muss die Veränderung sein, damit wir in hundert Jahren noch da sind? Wir müssen uns überlegen, wie man den Unternehmen die Macht entzieht und sie zurück in die Hände der Gemeinschaft und der Menschen legt. Und das bedeutet, dass man den Profit den Menschen unterordnen muss. Ich glaube nicht, dass das kapitalistische System morgen verschwinden wird, aber ich denke, dass wir eine Art Gleichgewicht schaffen müssen, denn im Moment haben wir nur unglaublich starke Unternehmensinteressen, die Geld, Macht und Einfluss haben, und dann gibt es erst alles andere. Wir brauchen also ein neues Gleichgewicht. Mein Optimismus ist darin begründet, dass alle Dinge miteinander verwoben sind. Und sie sind mehr als alles andere mit der existenziellsten Krise der Welt verflochten, der Klimakrise. Und wir haben eine ganze Generation heranwachsen sehen, die ursprünglich von einem 16-jährigen Mädchen aus Schweden angeführt wurde. Und diese Kinder werden nicht nur bald alt genug sein, um zu wählen, sondern sie werden auch mit Blick auf diese Krise wählen, weil sie verstehen, dass die derzeitige Struktur der weltweiten Konzernmacht nicht aufrechterhalten werden kann, wenn wir einen sicheren Planeten wollen. Sie werden also nicht nur als Wählergruppe agieren, sondern diese Kinder werden auf die Straße gehen. Sie wachsen als Aktivisten auf. Sie begreifen, dass es Schritte über die Wahlurne hinaus braucht. Wenn ich also nach einer Inspiration für die Hoffnung suche, dass wir auch in hundert Jahren noch da sein werden, dann sind sie es. Weil sie verstanden haben, dass nichts von dem, was im Moment passiert, nachhaltig ist. Oder wenn man sich anschaut, dass wir eine Präsidentschaftswahl hatten, bei der wir diesen neofaschistischen autoritären Donald Trump durch einen korporativen Joe Biden ersetzt haben. Und ja, für mich ist das eine Verbesserung. Es ist keine große Verbesserung, aber es ist eine. Aber was diese jungen Leute wirklich begreifen, ist, dass alle Zugeständnisse, die Joe Biden gemacht hat, was die Bewältigung der Klimakrise angeht, nicht ausreichen. Und wenn die Vereinigten Staaten versuchen wollen, eine globale Führungsrolle bei der Bewältigung dieses Problems zu übernehmen, brauchen wir jemanden, der sich tatsächlich damit befasst und die schwierigen Entscheidungen trifft und das Richtige tut. Das ist also meine Hoffnung. Es gibt die gleiche Art von Konflikten, die ich bei den Themen Rassismus, Sexismus und Homophobie gesehen habe, als ich jung war, und die man jetzt zu sehen beginnt. Und die Menschen verstehen, dass die Unternehmensstruktur, mit der wir im Moment leben, nicht so bleiben kann, wenn wir wollen, dass der Planet eine Chance hat.

Könnt ihr uns zum Schluss noch verraten, worum es in „Victory or death“ geht? Von welchen Schlachtfeldern singt ihr? Vom Titel her könnte das jedenfalls auch ein SABATON-Song sein.
Chris: Ja, das stimmt. Ich denke, dass der Song innerhalb des Konzepts der Platte auf der Geschichte der vergessenen Freiheitskämpfer beruht. Zum Beispiel passierte das bei Martin Luther King. Man will uns immer weismachen, dass Martin Luther King ein Pazifist war, der nie etwas Unruhestiftendes getan hat. Und er wurde von einem Verrückten getötet. Punkt. Und diese verkürzte Darstellung ist das, was das amerikanische Bildungssystem den jungen Menschen über Dr. Martin Luther King gibt, obwohl er in Wirklichkeit ein entschiedener Kriegsgegner war. Und mindestens Sozialist. Er setzte sich für die Gleichberechtigung der Armen ein, für die Gleichberechtigung der Vietnamesen. Er lebte ein Leben, das weit über „I have a dream“ hinausging. Die Politiker, die heute an der Macht sind, waren sehr bereits am Leben, als er es war, und haben aktiv gegen ihn gekämpft. Dennoch kommen sie an dem einen Tag im Jahr hervorgekrochen, den sie Martin Luther King widmen, zitieren eine Zeile aus seiner Rede „I have a dream“ und tun so, als wären sie auf seiner Seite. Wir dachten als Band, dass das eine sehr wichtige Geschichte zu erzählen ist, dass unsere Freiheitskämpfer, die Leute, die tatsächlich Aktivismus leben und atmen, unabhängig vom Ergebnis, unabhängig vom Sieg, ihr Leben der Empathie und der Gerechtigkeit für andere Menschen widmen, dazu benutzt werden, um die Macht zu erhalten, die die Mächtigen bereits haben. Und so wollten wir diese Geschichte bewusst erzählen, und das ist in dem Text das Schlachtfeld. Das Schlachtfeld ist, was ihr hinterlasst, ist euer Erbe. Lasst nicht zu, dass es euch gestohlen wird. Nicht dass es ein Anti-Vietnamkriegs-Protestsong ist. Diese Leute, von denen ich eben sprach, sind so weit von der Realität entfernt, dass sie oft Teile unserer Kultur für sich verwenden, die eigentlich unsere sind. Und deshalb denke ich, dass es bei dem Song „Victory or death“ nur darum ging sicherzustellen, dass wir diese Hommage im Katalog der Anti-Black-Racism Songs für diese Leute haben. Ob Emma Goldman, ob Martin Luther King, ob Woody Guthrie, ob Greta Thunberg, ich glaube, es gibt eine lange Reihe von Menschen, die alles, was sie haben, einsetzen, um die Leiden anderer zu lindern. Das ist es, was wir für das Vermächtnis des Punkrock halten und von dem wir hoffen, dass es auch das Vermächtnis dieses Mannes ist. Es ist wirklich eine Hommage an die vergessenen Freiheitskämpfer und Menschen, die sich für Gleichberechtigung engagiert haben. Aber es ist auch eine Erinnerung daran, wer diese Menschen wirklich waren.