ERNTE 77

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Kritik am Zeitgeist

„Das rote Album“, die vierte Platte der Kölner Band ERNTE 77, besticht nicht allein durch mitreißende Punkrock-Songs, sondern auch durch den gelungenen Blick auf andere Genres. Aufgrund ihres gewohnt kreativen Umgangs mit Sprache verarbeiten sie in ihren Songs mittlerweile auch den immer stärker werdenden Rechtsruck. Wir sprachen mit Sänger und Bassist Kalle nicht nur über die Grenze zwischen Satire und Fun-Punk, „Self-Care“ und das Zurechtkommen in dieser Welt, sondern auch, wie sie sich ein Punk Revival vorstellen können. ERNTE 77 sind außerdem Kilian an der Gitarre und Baum am Schlagzeug.

Warum habt ihr euer neues Album „Das rote Album“ genannt? Und warum hat es ein grünes Cover?

Es gibt so viele Alben, die nach Farben benannt sind. Wir wollten mit der stillschweigenden Übereinkunft brechen, dass diese Benennung irgendwie mit dem Cover zusammenhängen müsste.

Ihr habt mit „Wer feiern kann, kann auch ausschlafen“, „Die goldene Mitte“ und „Planeten im Test“ drei Songs vorab digital veröffentlicht. Warum gerade die? Und wer kam auf die Idee, für die B-Seite NOFX zu covern?
Die Auswahl der Singles war tatsächlich ein bisschen knifflig, weil wir einerseits natürlich eher eingängige Songs nehmen wollten, andererseits aber auch den Stil des Albums damit abbilden wollten. Wir haben deshalb ausführlich hin und her diskutiert, aber auch Ratschläge aus unserem Bekanntenkreis mit einfließen lassen. Jetzt sind zwei von den drei Vorab-Songs eher von der experimentelleren Sorte, aber dafür hoffentlich auch gute Ohrwürmer. Der dritte natürlich auch, haha. Die digitalen Bonustracks haben mittlerweile Tradition, wir suchen uns dafür immer interessante Coverversionen aus, und diesmal bekommt jede Single eine. „Kids of the K-hole“ von NOFX haben wir genommen, weil der Song ein im Punkrock unterrepräsentiertes Thema behandelt. Was wir ja eigentlich allgemein oft als Ziel haben.

Eure Texte besitzen viel Humor und verarbeiten mit satirischer Note den Alltag – wie vermeidet ihr das Abrutschen in den Fun-Punk?
Ich glaube, dass sich Fun-Punk doch eher durch die Abwesenheit von satirischer Note und Ironie auszeichnet. Diese Genre-Schublade ist aber heutzutage kaum noch relevant, oder? Mir ist sie jedenfalls hauptsächlich in Bezug auf Bands aus den Achtziger-Jahren untergekommen. Aber jetzt mal auf uns bezogen, ich versuche, Texte möglichst mit mehreren Ebenen zu versehen, wenn ich auf Humor abziele. Außerdem werden bei uns ja auch oft genug nicht nur die unwichtigen, sondern auch die wichtigen Anliegen der Zeit behandelt. Fun-Punk-Bands wurde ja oft vorgeworfen, nichts aussagen zu wollen. Wir haben grundsätzlich schon eine Kritik am Zeitgeist vor Augen, in vielerlei Hinsicht.

Auf der neuen Platte gibt es nicht nur reine Punkrock-Songs, sondern auch Ausflüge in andere Bereiche wie Elektro, NDW oder Indie – ist das jetzt ein Anzeichen von Erwachsenwerden oder die berühmte musikalische Weiterentwicklung?
Vereinzelte Ausflüge hatten wir ja auf den letzten Platten schon gehabt, das hat sich jetzt wirklich etwas verselbständigt. Das neue Album spiegelt da ein wenig die Corona-Zeit wider, in der die Songs entstanden sind, denn ohne Punk-Konzerte und -Kneipen hatte ich beim Schreiben verhältnismäßig viel anderweitigen musikalischen Input. Im Prinzip komponiere ich auch immer die Lieder, die ich in erster Linie selbst gerne hören würde. So kam diesmal eine etwas vielfältigere Stilmischung heraus, die aber, glaube ich, trotzdem erkennbar unsere Handschrift trägt. Unsere Vorliebe für einprägsame Melodien zieht sich ja auch durch die überraschenderen Songs. Eine gewisse Abwechslung finde ich jedenfalls grundsätzlich ganz gut, außer bei BAD RELIGION. Die sollen bitte einfach immer genauso weitermachen.

Ihr seid diesmal auch eine ganze Ecke politischer, etwa bei „Die goldene Mitte“ oder „Ihr und euer Wir“. Was war jetzt der finale Anlass?
Die politischen Aussagen sind in den letzten Jahren auf jeden Fall konkreter geworden, jedenfalls teilweise, und tatsächlich auch häufiger. Der Anlass ist, dass die politische Landschaft immer weiter nach rechts rückt, und damit auch die Wut und der Drang gestiegen sind, dem etwas entgegensetzen zu wollen. Zum Beispiel diese bescheuerte Hufeisentheorie, die von Rechten gerne hervorgekramt wird, um linke Politik zu diskreditieren und sich selbst als die über alles erhabene gemäßigte Mitte darzustellen. So ist der Text zu „Die goldene Mitte“ entstanden, der quasi entlarven soll, was hinter solchen Argumentationsmustern wirklich steckt. Es gibt darin ja auch noch die Textzeile „Ich bin normal, ihr seid ideologisch“, die ebenfalls die Rhetorik von konservativ bis reaktionär eingestellten Leuten ins Lächerliche ziehen soll. Humor kann ja auch ein gutes Mittel sein, um die Missstände um einen herum besser zu ertragen.

Trotzdem gibt es jetzt zwei Texte über das Saufen, „Wer feiern kann, kann auch ausschlafen“ und „Besoffen meditieren“. Oder habe ich mich da verzählt?
Der Rausch als Thema zieht sich eigentlich durch noch mehr Lieder. „Texte über das Saufen“ greift da aber zu kurz, finde ich. Es geht da ja nicht darum, sich selbst super geil zu finden, weil man gerne viel Bier trinkt, um noch mal auf die von dir angesprochene Abgrenzung zu Fun-Punk zurückzukommen. Sondern zum Beispiel um das Zurechtkommen in der Welt, wobei der Rausch ein wichtiger Bestandteil sein kann. Oder in „Wer feiern kann, kann auch ausschlafen“ geht es um das Verhältnis zwischen Hedonismus und dem kapitalistischen System. Und darum, dass das Lustprinzip höher als Arbeitgeberinteressen zu bewerten ist.

Warum gibt es bei „Besoffen meditieren“ im Textblatt die Anmerkung, dass ihr auch selber meditiert?
In der Textbeilage gibt es zu zwei Songs kurze Bemerkungen, mit denen wir eventuelle Missverständnisse vermeiden wollten. Der Song „Besoffen meditieren“ handelt in erster Linie von Punks, die mit dem Älterwerden verstärkt das Thema Self-Care für sich entdecken, und sich deshalb mit Yoga oder Meditation beschäftigen. Es geht aber auch um Esoterik-Quatsch, der sich häufig zu solchen Themen dazugesellt. Deshalb wollte ich nur klarstellen, dass ich Meditation als tatsächlich wirksame Aktivität ausdrücklich nicht mit Aura und Chakra und Äther in einen Topf schmeißen möchte, und das hier nur dem Gag geschuldet ist. Ob die anderen in der Band meditieren, weiß ich spontan nicht, ich habe da nur für mich selbst gesprochen.

Ihr bereitet ein neues Punk-Revival vor, wie ihr in einem Lied singt. Abgesehen von dem tollen Sound – California-Punkrock lässt grüßen – und der genauen Beschreibung des derzeitigen Zustands der Szene, warum erwähnt ihr explizit das Jahr 1994 und wie können wir uns dieses Revival vorstellen?
Der Text von „Ernte 77 bereiten das zweite Punk-Revival vor“ ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen, sondern greift die Sehnsucht nach einer nostalgisch verklärten Vergangenheit auf, die sicherlich viele Leute in der Punk-Szene haben. Das Jahr 1994 steht dafür exemplarisch, weil Punkrock damals ja ein großes Comeback im Mainstream erlebte. Und die im Text erwähnten Chaostage fanden ebenfalls Mitte der Neunziger Jahre ihren Höhepunkt. Der Song verspricht sozusagen eine Wiederkehr der „guten alten Zeit“, die vermutlich so nicht mehr passieren wird. Alleine schon, weil bei jungen Leuten heutzutage die Identifikation mit den altbekannten Subkulturen immer mehr zurückgeht. Wir arbeiten aber zumindest am Revival der musikalischen Qualität von damals.

Ein Song heißt „Mein Dildo ist wichtiger als Deutschland“. Wäre das nicht ein schönes T-Shirt-Motiv?
Ach, bei uns bietet doch eigentlich jeder zweite Songtext Ideen für T-Shirt-Motive, haha. Wer soll denn die alle kaufen?

Ihr beschreibt in „Von der Musik leben“ das karge Dasein von Musiker:innen. Könnt ihr von eurer Musik leben?
Unser neues Album erscheint ja zum ersten Mal auch auf CD, vielleicht wird das Comeback dieses Mediums im Zuge des Retro-Trends der Schlüssel zum kommerziellen Erfolg werden. Ansonsten können sich gerne Mäzene mit aussagekräftigen Unterlagen bei uns bewerben. Das sage ich extra dazu, damit das Angebot nicht zwischen denen all der anderen potenziellen Mäzene untergeht.