LONG DISTANCE CALLING

Foto© by Vincent Grundke

Einsame Spitze

Es ist fast schon wunderbar, dass LONG DISTANCE CALLING die einzige wirklich erfolgreiche instrumentale Post-Rock-Band in ganz Deutschland sind. Ihre Musik wurde in den vergangenen Jahren oft als künstlerisch wertvoll und bereichernd gerühmt und auch das neue Album „How Do We Want To Live?“ verfügt über diese Makellosigkeit. Bassist Jan Hoffmann versucht uns in einem ausführlichen Interview zu vermitteln, was an dem neuen Album so besonders ist, was Musik in Deutschland 2020 noch wert ist und wieso viele den Sound seiner Band nicht verstehen.

Ein neuer Klang

Schon auf ihrer „Seats & Sounds“-Tour haben sich LONG DISTANCE CALLING etwas Besonderes überlegt. Mit Unterstützung von Luca Gilles (INDIANAGEFFLÜSTER) haben sie ihre Musik um ein akustisches Cello und diverse Synthesizer ergänzt. Diese besonderen Konzerte waren ein Anreiz dafür, dass auch auf dem neuen Album mit ihm als Gastmusiker gearbeitet werden soll, wie Jan erzählt. „Von unserer Seite war das direkt nach der Tour klar, eigentlich schon währenddessen. Das Feedback war super und die Atmosphäre eines Cellos kann man künstlich nicht erzeugen.“ Generell galt für das Recording von „How Do We Want To Live?“ der Ansatz, dass alles, was organisch aufgenommen werden kann, auch so umgesetzt werden soll. „Das Schlagzeug kommt komplett ohne Sampling aus und alle Beats, die auf dem Album sind, hat Janosch aus eigenen Samples gebaut.“ Das alles war „ultra nerdig“, wie Jan schmunzelnd hinzufügt. Noch nie haben sich LONG DISTANCE CALLING so viel Zeit für die Produktion und den Feinschliff eines Albums genommen. Auch wenn es den Münsteranern schon immer darum ging, als Musiker besser zu werden und „noch eine Schippe draufzusetzen. Damit die Leute nie wissen, wie die nächste Platte klingt, und sich stets fragen, was als Nächstes kommt.“ Das bedeutet zwar, dass man Fans verlieren kann, aber auch dass man neue dazugewinnt. Für Jan bedeutet es aber auch, „dass man machen kann, was man will, und so das Genre weiterentwickelt“.

Mainstream?
Die ersten Singles vom neuen Album sind die, die der Bassist noch am eingängigsten findet. „Sehr straight, sehr poppig, fast schon wie bei THE POLICE“, so würden Songs wie „Voices“ oder „Hazard“ wirken im Vergleich zu den anderen Tracks auf dem Album, die „weiter raus“ sind. Mit Mainstream hat die Musik von LONG DISTANCE CALLING aber kaum etwas zu tun, auch weil Jan dort die künstlerische Kreativität vermisst. „Was aktuell Mainstream ist, kocht musikalisch auf ganz kleiner Flamme.“ Die Mainstream-Musik der Achtziger und Siebziger Jahre hatte für ihn eine viel größere Wertigkeit, die er in der heutigen Musikrezeption vermisst. Dennoch betrachtet er Künstler wie Steven Wilson als Hoffnungsträger, die komplexe Musik salonfähig machen und in den Mainstream ziehen, wie es einst PINK FLOYD, die einen großen Einfluss auf die Musik der Band ausüben, geschafft haben. „Für viele Leute ist das die absolute Überforderung. Ich selbst liebe komplexe und anspruchsvolle Musik, aber hasse unnötig Kompliziertes. Den Spagat zu schaffen, das zugleich eingängig zu machen, ist für mich die absolute Königsdisziplin.“ Generell besitze Musik in Deutschland 2020 einen anderen Stellenwert als beispielsweise in Skandinavien oder Großbritannien, so Jan. „Das ist eine reine Unterhaltungsindustrie. Nur eine kleine Elite legt wirklich Wert auf Qualität und auch da geht es oft nur um den Status.“

Kunstmusik
In dieser Elite, fernab des eigentlichen Mainstreams, erlangten LONG DISTANCE CALLING mit einer Nominierung für den Deutschen Musikautorenpreis besondere Aufmerksamkeit, was Jan als enorm spannend und außergewöhnlich empfindet. Doch was macht das Songwriting der Band künstlerisch so wertvoll? „Wir versuchen einfach, eingängig zu bleiben. Hooklines sind für uns super wichtig. Die müssen nicht über den Gesang kommen, sondern können auch von Schlagzeugrhythmen oder Gitarrenmelodien erzeugt werden. Wir sind schon geradliniger als andere Bands, auch wenn geradlinig das falsche Wort ist.“ Vielmehr steuern LONG DISTANCE CALLING immer wieder auf Höhepunkte zu in ihren Songs und agieren ähnlich wie Vertreter der Minimal Music. „Das ist ein spannender Gedanke und passt auf eine gewisse Art und Weise insbesondere auf die Repetitionen. In der Gesamtheit ändern sich aber viele Details, wenn man genau hinhört“, so Jan, merkt aber an, dass nicht jeder Hörer über die klangliche Oberfläche der Songs hinaus in diese tiefen Details eintauche.

Unverständnis
Diese Detailverliebtheit und Experimentierfreude sowie die Tatsache, dass fast alle Songs instrumental sind, führen aber auch dazu, dass viele Menschen die Musik von LONG DISTANCE CALLING nicht völlig nachvollziehen können und eher als „Kunstmusik“ auffassen, wie Jan reflektiert. „Es gibt Leute, die verstehen das gar nicht, weil sie damit kaum Berührungspunkte haben. Viele denken auch nicht drüber nach, dass Techno, klassische Musik oder Soundtracks ebenfalls instrumental sind. Sobald Schlagzeug und Gitarre anfangen, warten viele auf den Gesang, aber wir versuchen, diese Lücke anderweitig zu füllen.“ Hinter dem Songwriting von LONG DISTANCE CALLING steckt immer eine Idee und der Versuch, diese bestmöglich umzusetzen. Es geht den Musikern um den Anspruch, einen Song mit einem Gefühl zu füllen statt mit Frickelei. Deshalb legen die Münsteraner mehr Wert auf Groove als auf vertrackte Takte, die den Flow nur unnötig stören würden. Dass das dazu führt, dass die Stücke oft länger werden als die radiotauglichen dreieinhalb Minuten, ist einkalkuliert. „Man muss erstmal Stimmung erzeugen, bevor es richtig losgeht. Wir möchten einen Spannungsbogen aufbauen und das dauert einen Moment.“ Auch mit „How Do We Want To Live?“ gehen LONG DISTANCE CALLING keine Kompromisse ein und bleiben bei ihrem musikalischen Ansatz, der einzig den Gefühlen folgt. Doch warum gibt es neben LONG DISTANCE CALLING kaum eine weitere große Post-Rock-Band in Deutschland? „Das ist ’ne gute Frage ... Ich denke, für diese Art von Musik braucht man enorm viel Geduld, Nerven, Eier und muss sich von schnellem Erfolg verabschieden. Und das war uns von Anfang an klar.“