NECK DEEP

Foto© by Steve Gullick

There is still hope

NECK DEEP aus Wales gehören zu den erfolgreichsten Bands, die die neue Pop-Punk Welle hervorgebracht hat. 100 Millionen Views auf ihren YouTube-Videos, über eine Million Hörer bei Spotify jeden Monat, zahlreiche gewonnene Awards und Top-5 Chartplatzierungen in den USA sprechen für sich. Mit „All Distortions Are Intentional“ erscheint nun das vierte Studioalbum der Band um Sänger Ben Barlow, was der perfekte Grund ist, mit ihm über das Werk und die Hintergründe zu sprechen und den Walisern auf den Zahn zu fühlen, was alles in diesem Konzeptalbum steckt

NECK DEEP sind über die letzten Jahre zu einer der größten Pop-Punk-Bands überhaupt geworden. Wie fühlt sich das an und wo soll der Weg noch hinführen?

Es fühlt sich großartig an! Aber wir haben noch einen weiten Weg zu gehen. Wenn du sagst, dass wir eine der größten Pop-Punk-Bands der Welt sind, dann ist es großartig und wir sind verdammt dankbar dafür. Trotzdem wären wir lieber eine der größten Bands aller Zeiten, dort kann uns der Weg gerne hinführen, haha.

Ihr habt mit jedem Album einen große Sprung gemacht, so auch mit dem neuesten Werk „All Distortions Are Intentional“. Wenn ich jetzt sage, dass es vom Sound her glatter wirkt als die letzten Alben, würdest du mir zustimmen?
Bedingt. Ich würde behaupten, dass für jeden alten NECK DEEP-Fan etwas dabei ist, wir aber trotzdem viel Neues bieten. „All Distortions Are Intentional“ deckt alle Abschnitte unseres Schaffens ab, während wir viel ausprobiert haben. Ich würde es als Rock Album bezeichnen, wie wir es in dieser Form vor ein paar Jahren niemals geschrieben hätten. Zudem folgt das Album einer Story. Es gibt eine Geschichte, Figuren und ein Setting, in dem sich alles abspielt. Je nach Story-Abschnitt klingt die Musik anders. So haben wir mit „Sick joke“ einen Song, der rougher ist als vieles,, was NECK DEEP jemals gemacht haben, während wir bei „ Quarry“ etwas vollkommen Neues ausprobieren. Egal ob man uns schon länger verfolgt oder neu dabei ist, wir haben für alle eine gute Balance gefunden.

Im Jahr 2020 ist es selten, dass ein Album noch einer Story folgt, ähnlich wie GREEN DAY mit „American Idiot“ oder BOX CAR RACER. Stattdessen wird eher auf Streaming-starke Singles gesetzt. Wieso habt ihr euch dennoch dafür entschieden?
Ziel war es, ein Album zu schreiben, das die Leute als Gesamtwerk hören wollen. Jeder, der das Album hört, soll von Lied eins bis zwölf die Handlung erleben und nicht nur einzelne Singles hören. Jeder Song geht in den nächsten über, damit die Leute es wirklich als zusammenhängend wahrnehmen und nicht nur als Kollektion von Singles. Das Konzept entstand, als wir den Song „Lowlife“ geschrieben haben. Wir waren gerade mit BLINK-182 in den USA auf Tour. Man könnte sagen, wir haben unseren Traum gelebt, jeden Abend in großen Hallen gespielt und uns unbesiegbar gefühlt. Ich hatte das Gefühl: Jetzt ist alles möglich! Eines Tages habe ich im Bus auf meiner Gitarre ein paar Akkorde gespielt und dazu gesungen. Aber der Text fühlte sich nicht so an, als würde er von mir stammen. Es fühlte sich mehr an, als wäre es nur ein kleiner Teil von mir, der diesen Text verfasst. Also habe ich mich gefragt, was passiert, wenn ich diesen Teil zu einem Charakter forme und einen zwielichtigen Typen erschaffen, ein „Lowlife“. So haben ich meine Erfahrungen durch die Augen diesen Charakters verarbeitet. Ich habe ihm ein Love Interest geschrieben und mir Menschen in meinem Umfeld angeschaut, die als Blaupausen für andere Charaktere in der Story dienen können. Das zentrale Thema des Albums ist Mental Health und wie sie durch die Umwelt beeinflusst wird. Dazu erleben die Protagonisten eine Reise, in der sie mit Dingen konfrontiert werden, wie wir sie alle erleben oder erlebt haben. Es geht um depressive Verstimmungen, Phasen, in denen sich glücklich oder traurig sein sehr schnell abwechseln, aber auch um Selbstwahrnehmung, wie es sich anfühlt, den persönlichen Tiefpunkt zu erreichen, und wie man dort wieder rauskommt. All das führt zu der Erkenntnis, dass man akzeptieren muss, dass man nie alle Aspekte seines Lebens unter Kontrolle haben kann. Stattdessen sollte man sich auf die Teile fokussieren, die man bestimmen kann, wie sein privates Umfeld zum Beispiel. Wer das Gefühl bekommt, die Verbindung zu Welt zu verlieren, kann diese wiedererlangen, wenn er Zeit mit Menschen verbringt, die ihm gut tun, die für einen da sind und auch auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Wenn es eine wichtige Lektion beim Hören zu lernen gibt, dann die, dass wir alle einmal durch so eine Phase gehen, aber all das Negative nicht für immer andauert und wir lernen müssen, Dinge aus verschieden Perspektiven zu betrachten, um so etwas Positives daraus zu ziehen. All das ist Teil der Reise.

Der Hauptcharakter hört auf den Namen Jett. Wie viel Ben Barlow steckt in Jett? MY CHEMICAL ROMANCE haben ja sogar bei Konzerten die Charakter ihrer Konzeptalben auf der Bühne gespielt, werden NECK DEEP so etwas auch tun?
Ich glaube nicht, dass wir so weit gehen werden. Wir wollen ja auch unser altes Material spielen, bei dem wir einfach nur wir selbst sind. Ich glaube, es wäre komisch, wenn ich als Jett die Bühne betreten würde, aber dann Songs von „Life Is Not Out To Get You“ spielen würde. Aber eigentlich ist es eine interessante Idee, über die ich noch gar nicht nachgedacht habe. Falls wir es jetzt doch tun, bekommst du die Credits dafür, haha! Eine Sache, die mir erst nach Fertigstellung der Texte bewusst geworden ist, ist die, dass die Charaktere mir beim Schreiben sehr viel kreative Freiheit gelassen haben, um mich selbst darzustellen. Ich habe mich diesmal nicht limitiert, weil ich nur aus der persönlichen Sicht geschrieben habe oder weil ich mich getraut habe, etwas nicht zu schreiben, weil es mir zu intim gewesen wäre. Wenn ich das Album jetzt höre und Jett mit mir vergleiche, wird mir bewusst, dass er einen Art Schild ist, um über meine Erfahrungen zu schreiben. Um zu deiner Frage zurückzukommen, wie viel Ben in Jett steckt, das ist die Antwort: viel, sehr viel. Aber alles hinter einem Charakter zu verstecken, hat es mir leichter gemacht, ehrlich zu sein, und hat zugleich viel Druck von mir genommen, ehrlich zu sein. Mit einem psychologischen Trick habe ich mich also dazu bringen können, mich zu öffnen. Du hast ja selbst ein paar Bands angesprochen, die es auch so gemacht haben. BOX CAR RACER, GREEN DAY und sogar die BEATLES haben aus der Sicht von Charakteren geschrieben, um den Last von ihren Schultern zu nehmen.

Ihr habt das Album mit Matt Squire aufgenommen, der unter anderem schon PANIC! AT THE DISCO, THE USED und Ariana Grande produziert hat. Wie hat sich diese Zusammenarbeit gestaltet?
Was soll ich sagen? Er ist eine Legende! Alle Produzenten, mit denen wir gearbeitet haben, waren super für das jeweilige Album. Diesmal sind wir in die USA geflogen, um uns mit Produzenten zu auszutauschen. In dem Moment, in dem wir Squire getroffen haben, wusste ich, dass er der Richtige ist. Wir haben beim ersten Treffen nicht mal über Musik gesprochen, sondern über Privates, Politisches und Soziales. Und als wir uns unterhalten haben, haben wir festgestellt, dass wir eine ähnliche Vorstellung von der Welt haben. Wir sollten eigentlich auch noch andere Produzenten treffen, aber dies haben wir nach dem ersten Gespräch mit Squire abgesagt. Aufgenommen haben wir dann im Monnow Valley Studio in Wales. Anders als bei den Vorgängern, die wir in Florida und L.A. aufgenommen haben, wollten wir diesmal in unserer Heimat an dem Album arbeiten. Das Monnow Valley Studio war genau richtig. Es fühlte sich nicht wie ein Nine-to-five-Büro an, sondern wie ein lebender Organismus. Egal ob man nachts um drei oder mittags um zwei vorbeischaut, immer ist jemand dort und arbeitet an etwas. Squire und wir waren die ganze Zeit auf einer Wellenlänge. Er hat verstanden, wer wir sind, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Er hat uns unfassbar viel Respekt entgegengebracht und mit Ideen geholfen. Dabei war er so emphatisch, dass es einfach eine tolle Erfahrung für alle Beteiligten war.

Du hast erwähnt, dass ihr mit ihm über Politik und soziale Probleme geredet habt. NECK DEEP sind für eine Pop-Punk-Band relativ direkt. Euer letztes Album hatte sogar politische Lieder. Siehst du es als deine Pflicht, sozial-politische Inhalte anzusprechen? Wollt ihr eure Fans dazu inspirieren, sich zu bilden?
Definitiv wollen wir das! Es ist wichtig, aber auch erschreckend, sich der Größe der eigenen Plattform bewusst zu werden. Ich sehe mich immer noch als den Klassenclown aus der Kleinstadt und frage mich oft, wieso Leute sich dafür interessieren, was ich zu bestimmten Themen zu sagen habe. Es schreckt mich also auch wieder ab, dass ich Meinungen beeinflussen kann. Es gibt Themen, zu denen ich nicht schweigen kann. Egal ob fehlgeleitete Politik, institutionalisierter Rassismus oder Gleichberechtigung für die LGBTQ+ Community. Ich möchte niemanden mit meiner Meinung vor den Kopf stoßen, weil da einer bei manchen Dingen eine andere Ansicht vertritt, aber bei Themen wie Rassismus geht es nicht anders. Vielleicht haben wir Fans, die sich noch keine Meinung gebildet haben, denen wir noch mal aufzeigen wollen, dass bei uns alle Hautfarben willkommen sind. „The Peace And Panic“ würde ich aber nicht als politisches Album betrachten. Zu der Zeit als die Texte entstanden, waren der Brexit und die Wahlen omnipräsent. Das Leitmotiv des Albums war daher eher „Fuck the Politics“. Denn alles, was sie taten, war die Bevölkerung zu spalten und Fronten zu verhärten. „All Distortions Are Intentional“ ist ein Album mit sozialen Themen. Es beschäftigt sich mit mentaler Gesundheit und wie diese durch die Welt um uns herum beeinflusst wird. Ich wollte einen Schritt zurück machen und die Politik in den Texten hintenanstellen. Vermutlich wollen die Leute nicht direkt noch ein Album mit einem politischen Ansatz. Vor allem weil die Politik bei uns in Großbritannien so verrückt ist. Alles polarisiert. Ein Album wird es für immer geben und ich möchte ihm nicht so einen Zeitstempel aufdrücken. Das neue Album ist kein politisches Album, aber wir sind politische Leute. Ich möchte, dass Leute sich selbst reflektieren und sich bewusst werden, wie sie die Welt um sich beeinflussen. Aber wenn es darum geht, meine oder die NECK DEEP-Plattform dahingehend zu nutzen, dann ist die Antwort: zu hundert Prozent!

Ein Zeitstempel wird dem Album vermutlich trotzdem für immer aufgedrückt bleiben: Es erscheint während einer globalen Pandemie. Das schränkt euch auch bei der Promo erheblich ein. Wieso habt ihr euch nicht entschieden, alles zu verschieben?
Ich denke, bei allem, was gerade in der Welt passiert – und da sehe ich die Pandemie nur als eine Art Backdrop, die alles noch komplizierter macht –, müssen wir gerade nicht im Rampenlicht stehen. Natürlich würden wir gerne Shows spielen, Fans treffen und Musikvideos drehen, vor allem weil wir viele tolle Ideen hatten, die das Album ergänzt hätten. Aber es gibt Wichtigeres. Unsere Fans wissen, dass das Album kommt, alle haben gerade eine schwierige Zeit, vielleicht ist das Album ein Lichtblick in all dem Negativen. Zudem haben wir uns neue Wege überlegt, mit unseren Fans zu interagieren. Aktuell streamen wir viel bei Twitch, wo wir uns eine Community aufgebaut haben und die Teilnehmenden untereinander sogar neue Freundschaften schließen. Ich glaube, wir gehen mit der Situation ganz gut um und hatten keinen Anlass, das Album zu verschieben.

Möchtest du deine Fans zum Abschluss noch etwas wissen lassen?
Bleibt positiv und informiert euch. Es gibt noch Gutes in der Welt, konzentriert euch darauf und sorgt für die Veränderungen in der Welt, die ihr euch erhofft. Setzt euch für Menschenrechte ein. There is still hope! Egal was euch runterbringt, egal wie aussichtslos alles erscheint, es wird wieder besser. Veränderung ist auf dem Weg. Wir werden keine Ruhe geben, wir werden nicht aufhören, für euch da zu sein. Egal ob ihr in echt vor uns steht oder auf einen Monitor schaut.