TV SMITH

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Keine normale Grippe

Ende der Siebziger feierte Timothy Smith aka TV Smith mit seiner Band THE ADVERTS in Großbritannien große Erfolge. Unter anderem mit dem Song „Gary Gilmore’s eyes“. Seit den Neunzigern ist der Brite immer öfter allein unterwegs, nur mit Gitarre und Verstärker. 2020 hat der 64-Jährige sein 16. Soloalbum „Lockdown Holiday“ aufgenommen, in Eigenregie in seinem Heimstudio in der Grafschaft Devon im Südwesten Englands. TV Smith saß wochenlang zu Hause fest, weil er sich mit dem Corona-Virus angesteckt hatte. Eine schlimme Zeit, wie er uns erzählt.

Wir können das Interview auf Deutsch führen. Wie hast du das eigentlich gelernt?

Ich habe mir das vor über zwanzig Jahren selbst beigebracht. Einen Kurs oder eine Abendschule habe ich nie besucht. Deshalb habe ich angefangen, britisches Schulfernsehen von der BBC zu schauen, um mir Deutsch selbst beizubringen. Ich habe die Sendungen damals auf Video aufgezeichnet und immer wieder angeschaut. Das Beste war aber immer, mit ein paar Freunden auf Tour zusammenzusitzen und die Sprache zu üben. Mit Bier geht alles besser, haha.

Du warst im März mit STILL LITTLE FINGERS auf Europatour. Die wurde nach drei Shows abgebrochen und du hast dich mit Corona angesteckt. Wie ist das bei dir verlaufen?
Zum Glück habe ich es noch geschafft, nach Hause zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mich noch ganz fit gefühlt und hatte keine Ahnung. Drei Tage später war ich total kaputt und bin nicht mehr aus dem Bett gekommen. Ich konnte kaum stehen und musste liegen bleiben. Obwohl ich starke Schmerzen hatte, konnte ich kein Schmerzmittel bekommen, weil in den Apotheken alles ausverkauft war. Die Schmerzen musste ich also ohne Hilfe ertragen. Das hat dann ein paar Tage gedauert. Gleichzeitig hat alles komisch geschmeckt und komisch gerochen. Nach einer Woche war alles wieder okay, aber dann haben die Probleme mit der Lunge angefangen. Außerdem war ich wieder total schlapp und hatte Schwindelgefühle. Das hat nach ein paar Tagen wieder aufgehört und ich konnte wieder normal arbeiten. Ich dachte dann, die Infektion wäre vorbei, aber jetzt, ungefähr ein halbes Jahr später, habe ich immer noch mit Kraftlosigkeit und Müdigkeit zu kämpfen. Das ist ganz komisch. Und meine Freundin hat ganz ähnliche Probleme. So eine merkwürdige Krankheit habe ich vorher noch nicht erlebt.

Es gibt ja viele Leute, die behaupten, Corona wäre nichts anderes als eine Grippe. Was empfindest du, wenn du das hörst?
Das sind völlige Idioten! Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass es etwas ganz anderes ist. Das hat mit einer normalen Grippe nichts zu tun. Die Leute wollen das aber nicht hören. Sie wollen glauben, dass alles wie immer ist und das Leben einfach weiterläuft. Aber es nicht alles okay und das Leben ist nicht mehr wie vorher. Hier passiert etwas, das unser aller Leben massiv verändert hat. Es ist keine normale Grippe, sondern eine ganz gefährliche Krankheit. Ich bin glücklich, dass ich noch lebe. Aber viele, viele Menschen werden noch daran sterben und noch mehr Menschen werden noch lange unter den Nachwirkungen zu leiden haben.

In der Zeit deiner Krankheit und deiner Genesung ist das Album „Lockdown Holiday“ entstanden. Also ist Corona wohl das große Thema in den Songs?
In den ersten Tagen, an denen ich mich halbwegs normal gefühlt habe, habe ich mich entschieden, Songs darüber zu schreiben, was mir passiert ist. Ich weiß sogar noch genau, wie meine Freundin Sally und ich uns angesteckt haben. Wir haben in England an einer Raststätte angehalten, um uns einen Kaffee zu holen und unser Freund, der immer fährt, ist draußen geblieben, um eine Zigarette zu rauchen. Als wir an der Kasse in der Schlange standen, hat dann der Typ vor uns geniest. Im Nachhinein wussten wir, dass das genau der Moment war, in dem wir infiziert wurden, weil unser Fahrer nicht positiv war. Ich habe dann meine Gitarre genommen, um genau dieses Erlebnis in einen Song zu packen, und wie sich die ganze Sache dann entwickelt hat. Es war für uns beide sehr schlimm, aber wir leben beide noch. Deshalb habe ich das Lied „The lucky ones“ genannt.

Ist „Lockdown Holiday“ dann eine Art Konzeptalbum über die Corona-Pandemie?
Ich wollte eigentlich gar kein Konzeptalbum schreiben, weil ich dachte, es klingt so langweilig, wenn sich alle Songs mit dem gleichen Thema beschäftigen. Aber durch Corona haben sich einfach so viele unterschiedliche Aspekte ergeben. Ich habe viel beobachtet und überlegt, wie diese Krankheit die Gesellschaft verändert. Corona hat so viele Arme wie eine Hydra. Ich war seit März zu Hause und hatte also jede Menge Zeit nachzudenken und mich damit zu beschäftigen, was gerade passiert auf der Welt. Wie reagieren die Politiker auf die Situation? Wie reagieren die normalen Menschen? Ich habe einfach immer weitergeschrieben und jeder Song behandelte dann eine andere Auswirkung der Pandemie.

Trotz Krankheit und Isolation hast du aber auch einen Song über das griechische Flüchtlingslager Moria geschrieben.
Für mich war es schlimm, dass ich krank wurde und alle meine Konzerte abgesagt wurden. Das ist aber alles nichts im Vergleich zu der Situation der Menschen in Moria, wo die Menschen in notdürftigen Zelten hausen und von Rechtsextremen bedroht werden. Also trotz aller Probleme geht es uns immer noch verhältnismäßig gut. Wir kommen immer noch finanziell über die Runden und haben alles, was wir brauchen. Für uns ist es nicht so schlimm. Alles eine Frage der Perspektive.

Neben Corona gibt es in Großbritannien ja auch noch den Brexit, über den immer noch verhandelt wird. Wie empfindest du die Situation?
Gerade jetzt müssten wir eigentlich alle zusammenarbeiten und uns gegenseitig helfen. Der Umgang mit der Pandemie und Lösungen für alle Probleme damit zu finden, ist das perfekte Beispiel. Es wäre besser gewesen, wenn wir Unterstützung aus dem Ausland hätten. Ich bin absolut überzeugt davon, dass die Leute gegen den Brexit stimmen würden, wenn heute noch einmal abgestimmt werden würde. Mit großer Mehrheit. Keiner glaubt noch den Worten von Boris Johnson. Er hat die Corona-Pandemie völlig falsch eingeschätzt. Das ist eine absolute Katastrophe. Ich habe keine Ahnung, was im Januar passiert. Die Wirtschaft ist jetzt schon kaputt und es wird immer schlimmer.

Wie hast du die Songs aufgenommen? Und was fasziniert dich an diesem reduzierten Sound? Nur deine Stimme und Akustikgitarre.
Diesmal hat es sich einfach so ergeben. Bei den letzten Alben habe ich auch mit Gesang und Gitarre angefangen und dann noch andere Musiker dazu geholt. Zum Beispiel Vom Ritchie, den Schlagzeuger von DIE TOTEN HOSEN. Das war aber diesmal gar nicht möglich, weil ich im Lockdown war. Es war kein anderer Musiker verfügbar. Ich durfte keine anderen Menschen treffen, also war ziemlich schnell klar, dass es dieses Mal nur Gitarre und Stimme sein würde. Aufgenommen in meinem kleinen Heimstudio. Außerdem haben mich die Reaktionen der Leute auf Tour überzeugt. Viele haben sich gewünscht, dass ich auf Platte, genauso wie auf der Bühne, nur mit Akustikgitarre zu hören bin. Meine beliebteste Platte in den letzten Jahren war „Acoustic Sessions Volume 1“. Das klang wirklich genauso wie auf der Bühne. Und wie gesagt, wegen des Lockdowns hatte ich sowieso keine andere Wahl.

Bist du immer noch mit kleinem Gepäck unterwegs, wenn du auf Tour gehst? Also nur Gitarre und Verstärker? Von dir selbst gebucht?
Nicht einmal ein Verstärker. Ich habe immer nur meine Gitarre und die Merch-Sachen dabei. In Deutschland werde ich inzwischen von Muttis Booking gebucht. Anfangs habe ich alle Konzerte mit Hilfe von Freunden selbst gebucht, aber inzwischen sind es einfach zu viele Termine. Wenn keine Pandemie ist, spiele ich zwischen 100 und 130 Shows im Jahr. Und jetzt gerade: null. Dieses Jahr musste ich schon 56 Konzerte absagen. Wir versuchen, ab und zu ein Konzert in England zu organisieren, aber das ist sehr schwer mit dem Social Distancing. Die Leute müssen an separaten Tischen sitzen. Pro Tisch sind maximal sechs Personen erlaubt. Dann kommt ein lokaler Lockdown und alles wird wieder abgesagt. Ich hatte seit März drei Konzerte gebucht und zwei wurden wieder gecancelt. In Ipswich habe ich mal draußen im Biergarten gespielt. Das war schon gut, ist aber ein völlig anderes Gefühl, vor Menschen zu spielen, die sitzen müssen.

Wie kommst du finanziell klar, wenn du einen Großteil deiner Einnahmen durch Konzerte erzielst?
Es ist schon schwierig. Momentan habe ich gar kein Einkommen, aber zum Glück gibt es eine kleine Unterstützung vom Staat für selbstständige Musiker. Das hat ein bisschen geholfen, außerdem habe ich nach so vielen Konzerten etwas Geld zurückgelegt. Das reicht zum Überleben. Es gibt viele Musiker, deren Situation schwieriger ist als meine. Ich will mich nicht beklagen.

Das Album wird wieder über JKP, das Label von DIE TOTEN HOSEN, veröffentlicht. Beschreib doch mal dein Verhältnis zu den Hosen? Wie habt ihr euch kennen gelernt?
Vor ungefähr dreißig Jahren haben die Hosen ihr Album „Learning English Lesson One“ aufgenommen. Quasi als Dankeschön an alle Punkbands, die sie inspiriert haben. Viele dieser Bands sind heute kaum noch bekannt. Damals wollten sie unter anderem den Song „Gary Gilmore’s eyes“ von meiner alten Band THE ADVERTS covern. Sie haben damals in einem Studio in London aufgenommen und dort habe ich die DIE TOTEN HOSEN zum ersten Mal getroffen. Wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Wir sind dann in Kontakt geblieben und später habe ich gemeinsam mit Campino den Text zu „Pushed again“ geschrieben. Dann habe ich immer wieder Texte für sie übersetzt und 2001 haben sie dann mit mir ein komplettes Album namens „Useless“ aufgenommen. Das war eine Art Best-Of meiner Songs mit den Hosen als Backing-Band. Jetzt im April hat mich Campino angerufen, um mir zu meinem Geburtstag zu gratulieren und hat sich erkundigt, was ich so mache. Dann habe ich ihm die ersten Songs von „Lockdown Holiday“ geschickt und er hat sofort gesagt, dass er die Platte auf JKP herausbringen will.

Eigentlich hättest du ja die Akustiktour der Hosen begleiten sollen. Das wären die größten Venues deiner Karriere gewesen. Wurde aber abgesagt. Wie sehr ärgert dich das?
Das wäre natürlich eine perfekte Kombination auf der „Alles ohne Strom“-Tour gewesen. Ich hatte mich schon so sehr auf diese großen Konzerte gefreut. Es war schon hart, diese Gelegenheit zu verpassen. Die Möglichkeit, vor so vielen Leuten zu spielen, wäre für mich sehr wichtig gewesen.

Was ist denn in den nächsten Monaten bei dir geplant? Was machst du jetzt?
Planen kann man aktuell gar nichts. Für den Rest des Jahres sind vier Konzerte vorgesehen, ob sie wirklich stattfinden werden, weiß keiner. Momentan bin ich sehr mit der Promotion für die neue Platte beschäftigt. Ich habe selbst Videos zu drei Songs gedreht, das habe ich vorher noch nie gemacht. Ich spiele viel Gitarre und übe die Lieder, damit ich gut vorbereitet bin, falls es doch wieder mit den Konzerten weitergeht. Ich werde außerdem versuchen, mit Live-Streaming zu arbeiten. Es gefällt mir zwar nicht besonders gut, ohne Publikum zu spielen, aber in dieser schwierigen Zeit muss man eben Kompromisse eingehen. Ich bleibe auf jeden Fall immer optimistisch, dass es irgendwie weitergeht. Irgendwann wird es auch wieder Konzerte geben.