ALEXISONFIRE

Foto© by Vanessa Heins

Als wären sie nie weggewesen

Wenn in ferner Zukunft irgendjemand mal etwas über die COVID-19-Pandemie schreiben muss, wird die Welle an Comeback-Platten, Reunion-Shows und unzähligen guten Alben wahrscheinlich das einzig Positive sein. Die 2001 in St. Catharines, Ontario, Kanada gegründete Band von Dallas Green, Wade MacNeil, George Pettit, Chris Steele und Jordan Hastings gab es ja eigentlich gar nicht mehr – außer für ein paar Shows und zwei „experimentelle“ Singles. Auch waren die Terminpläne vor allem von Green und MacNeil so vollgepackt mit anderen (nicht minder erfolgreichen und guten) Projekten, dass an eine neue AOF-Platte nicht wirklich zu denken war. Aber als dann plötzlich alles entschleunigt wurde, fanden die Kanadier doch wieder zusammen und haben mit „Otherness“ ein Stück Musik aufgenommen, das sich vielleicht sogar als das beste ALEXISONFIRE-Album in ihrer langen Karriere herausstellen wird.

Dallas, es ist erstaunlich, dass man „Otherness“ die Zeitspanne seit der Veröffentlichung von „Old Crows / Young Cardinals“, eurem letzten Album von 2009, nicht anhört. Ich hatte nach den beiden EPs „Death Letter“ vor zehn Jahren und „Dog’s Blood“ im Jahr 2010, sowie den doch sehr sperrigen Singles „Familiar drugs“ und „Complicit“ vor knapp drei Jahren eher damit gerechnet, dass ihr „normale“ Songstrukturen hinter euch gelassen habt. Von wem kam die Idee, dass das neue Album doch an eure alten Stärken anknüpfen soll?

Die Idee, sich als Band wieder konkret mit dem Schreiben eines Albums zu beschäftigen, entstand in dem Gefühl der Trostlosigkeit, die sich ja in der Pandemie vor allem auch im kulturellen Bereich breitgemacht hat. Im März 2020 haben wir, wie wahrscheinlich viele Menschen auf der Welt, begonnen, zu realisieren, dass uns dieser Mist noch eine ganze Weile stark einschränken wird. Die Monate verstrichen und wir haben erst mal alles runtergefahren. Im September war dann Wade, unser Gitarrist und Sänger, in der Stadt, in der der Großteil von uns wohnt, und hat schlicht gefragt, ob wir jammen wollen. So was haben wir seit sehr vielen Jahren nicht mehr „einfach so“ gemacht. Unter anderem, weil wir uns wahrscheinlich nie alle in unmittelbarer Nähe zueinander aufhielten. Dabei ging es ihm gar nicht mal darum, direkt neue Musik für ALEXISONFIRE zu schreiben, sondern einfach nur darum abzuhängen. Alles war besser als das, was da gerade um uns herum stattfand. Und wir hatten auch noch ein paar ungenutzte Ideen aus der Zeit, als wir die letzten neuen Songs herausgebracht hatten. Als wir diese Fragmente wieder aufgriffen und ein paar Tage damit verbrachten, manifestierte sich der Gedanke, dass es vielleicht doch ganz gut laufen würde, wenn wir fünf wieder gemeinsam Musik schreiben. Wir haben gemerkt, dass wir einfach unglaubliches Glück haben, dass wir uns mit etwas beschäftigen können, das uns in einer Zeit, in der nicht viel Gutes passiert, viel Spaß macht. Eine Sache, die wir machen dürfen, seitdem wir Kids waren und die unser Leben definitiv auf eine positive Art verändert hat. Man konnte diese Stimmung im Raum förmlich greifen. Tatsächlich ging es dann auch recht schnell.

Wie war es für euch, als ihr die Demoaufnahmen der neuen Songs gehört habt?
Wir haben zunächst fünf oder sechs Songs in dem Studio gegenüber von unserem Proberaum aufgenommen und wussten schon während des Hörens der Demos, dass wir ein Album aufnehmen müssen. Dabei sah es zu Beginn wirklich gar nicht danach aus. Immer wenn wir hier und da mal in den letzten Jahren ein Konzert gegeben haben, spielten wir mit dem Gedanken, irgendwann zu einem unbestimmten Zeitpunkt mal eine neue Platte aufzunehmen. Da wir alle aber kaum Platz für neue Termine hatten, hat sich die ganze Sache extrem verkompliziert und auch nie für so ein entspanntes Klima gesorgt. Dass dies jedoch jetzt passieren würde, und dass es vor allem in einer so kurzen Zeit geschehen würde, ist selbst für uns nicht vorhersehbar gewesen. Wir haben die neuen Songs in knapp einer Woche aufgenommen. Der Prozess, in dem „Otherness“ entstand, hat sich dann insgesamt über einen Zeitraum von sechs Monaten hingezogen. Und doch war alles irgendwie zwanglos. Wahrscheinlich haben wir für uns als Künstler das Beste aus der Pandemie herausgeholt.

Würdest du sagen, dass die Pandemie dabei geholfen hat, eure kreativen Akkus wieder aufzuladen und neue Energie zu schöpfen? Schließlich wurde der ewige Kreislauf aus dem Schreiben und Aufnehmen von Songs sowie den damit verbundenen Konzerten abrupt unterbrochen.
Diejenigen von uns, die bis jetzt unbeschadet aus dieser Zeit herausgekommen sind, können eigentlich nur versuchen, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen. Natürlich war es erst mal krass, dass auf einmal alles zum Stehen gekommen ist. Auf einmal hatten wir Zeit zur Verfügung, die sonst durch irgendwelche Dinge beansprucht wurde. Das führte bezogen auf ALEXISONFIRE und die neuen Songs dazu, dass quasi eine kreative Explosion auf die nächste folgte. Da waren dann gleichzeitig auch Gefühle im Raum, die wir als Band schon lange nicht mehr so füreinander gespürt haben. Vielleicht kann man vom perfekten Sturm sprechen, wenn wir über diese Phase in der Band nachdenken.

„Otherness“ klingt jetzt aber nicht gerade nach dieser durch und durch positiven Erfahrung, die ihr gehabt zu haben scheint. Worum geht es inhaltlich auf dem Album?
„Sweet dreams of otherness“ war der letzte Song, den wir geschrieben haben, bevor wir mit den tatsächlichen Aufnahmen begonnen haben. Er beschreibt für mich das Gefühl, das ich auch wieder während der Zeit, in der wir zusammen waren, gespürt habe. Wir waren immer eine Band, die anders war als andere. Wir klingen anders und wir verhalten uns auch anders. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Leute, die unsere Musik mögen. Selbst als wir zu Beginn unserer Karriere in die Screamo-Schublade gesteckt wurden, waren wir anders als die anderen Bands. Und das war für uns immer irgendwie selbstverständlich. Entweder man mag oder mochte uns oder man hat einfach keinen Zugang zu uns. Was jetzt aber auch nicht heißen soll, dass wir uns krampfthaft absondern wollten. Wir haben einfach in keine Schublade gepasst. Dieses Gefühl, beziehungsweise diese wiedergewonnene Energie hat mir dann noch mal bewusst gemacht, auf welche Art wir als Band funktionieren.

Wenn du schon gezielt einen Song ansprichst, lass uns doch bitte über die Experimente sprechen, die ihr in „Dark night of the souls“ und „Survivor’s guilt“ gemacht habt. Die Songs wecken mit ihren Synthies stellenweise eine Stimmung wie in einem Achtziger-Jahre-Horrorfilm, bevor sie dann doch wieder ganz eindeutig nach ALEXISONFIRE klingen. Stand jemals zur Debatte, ob es solche Töne überhaupt auf „Otherness“ schaffen würden?
Nein, das stand nie zur Debatte. Vor allem bei den beiden Songs haben wir nun endlich die Dinge ausprobiert, die wir vorher nicht wirklich durchgezogen haben. Mein Freund und Mitmusiker bei CITY AND COLOUR, Matt Kelly, konnte unsere Ideen, die wir auf anderen Platten bereits auch schon hatten, dieses Mal richtig einordnen und vor allem vernünftig einspielen. Sonst waren es immer Wade oder ich, die auf irgendwelchen Synthies oder Keyboards herumgeklimpert haben. Mit Matts Hilfe konnten wir unsere Ideen erst richtig ausschöpfen. Wade wollte einen Moog nutzen, den jedoch jemand vernünftig einspielen musste. Eigentlich war der Song auch gar nicht fertig, bis dieser Part auf einmal entstanden ist. Da kam Matt ins Spiel und hat dem Ganzen noch mal eine neue Ebene verpasst. Vielleicht hätten wir als junge Band Angst davor gehabt, solche Sachen zu spielen. Jetzt haben wir jedoch die Ketten abgelegt, die uns irgendwie noch ein Stück weit zurückgehalten haben.

Also kann man sagen, dass „Otherness“ auch eure gewagteste Platte geworden ist?
Wir haben uns dieses Mal vorgenommen, keine Idee nicht wenigstens auszuprobieren. Hatte jemand von uns einen Vorschlag für einen Song, haben wir uns gegenseitig ermutigt, bis zum Ende dranzubleiben. Es würde schon funktionieren. Das hat dann zu dem Einsatz von Synthies geführt, aber auch dazu, dass wir zum ersten Mal Gesangsharmonien für alle drei Sänger in der Band ausprobiert haben. Vorher war es immer so, dass jeder, der einen Song geschrieben hat, auch den Hauptpart darin gesungen hat. Die anderen haben dann vielleicht hier und da mal etwas Backing gemacht oder geschrien. Dieses Mal haben wir zum allerersten Mal wirklich unsere drei Stimmen übereinander gepackt. Das eröffnet uns auch noch mal ganz neue Möglichkeiten und ist ein riesiger Schritt für uns als Band.

Dann war es auch nur die logische Konsequenz für euch, dass ihr die Platte fast im Alleingang produziert habt?
Ja, irgendwie schon. Andererseits mussten wir aufgrund der Pandemie auch darauf achten, dass wir nicht zu viele Leute um uns herum haben. Aber eigentlich war das gar nicht entscheidend. Besonders Wade und ich haben in den letzten zehn Jahren so viel Musik produziert und herausgebracht, dass wir genug Selbstbewusstsein hatten, ohne einen externen Produzenten zu arbeiten.

Würdest du also sagen, dass „Otherness“ aus diesem Grund auch das beste Album von euch ist und dass ihr auf eurem Zenit angekommen seid?
Wie wahrscheinlich jede:r Künstler:in bin ich unheimlich stolz auf meine Arbeit – zumindest im Moment. Im Nachhinein bin ich wahrscheinlich kritischer als nötig. Das Schöne an einer Platte wie „Otherness“ ist, dass ich ihre Entstehung mit anderen teilen konnte. Vor allem war es dieses Mal eine besonders schöne Situation, da wir mittlerweile genug Erfahrung in manchen Dingen haben, was uns mutiger werden lässt. Andererseits würde ich nicht unterschreiben, dass wir ab jetzt nicht noch besser und interessanter werden können. Musik ist ja immer auch eine Sache, die von bestimmten Situationen abhängt und bei der es in erster Linie um Emotionen geht. Je nachdem, was um uns herum passiert, klingen unsere Songs anders, schreiben wir über andere Dinge. Was mir von den Aufnahmen dieses Albums definitiv in Erinnerung bleiben wird, ist das Gefühl, das sich beim Schreiben der Lieder breitgemacht hat. Ich war wirklich glücklich. Glücklich, weil ich mit den anderen vier an einem Punkt in unserer Geschichte angekommen bin, an dem sich alles gut anfühlt, wir mutig sind und uns als Band gegenseitig ergänzen können. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass es nicht viele Bands gibt, die nach zwanzig Jahren Bestehen noch so eine gute und interessante Platte veröffentlichen. Aber das ist meine persönliche Meinung. Sicher wird es da draußen auch diejenigen geben, die es lieber gehabt hätten, wenn wir wieder so klingen würden wie auf unseren ersten Platten. Daran bin ich schon gewöhnt.

Auf eine Sache würde ich gerne zum Schluss noch eingehen, die mich schon immer fasziniert hat: Wie schafft ihr es, dass ihr Songs am Ende so klingen lasst, wie sie in euren Köpfen entstanden sind? Woher wisst ihr, welcher Sound sich gut anhört und was sich in einem Song von ALEXISONFIRE verwenden lässt. Ich meine, wir alle haben sicherlich schon mal eine Melodie im Kopf gesungen und dann wieder vergessen.
Also, ich kann zumindest für Wade und mich sprechen und erzählen, dass wir für „Otherness“ einen anderen Ansatz als sonst wählen wollten. Wir haben zum ersten Mal Combo-Amps statt Marshall- oder Orange-Stacks, also eine Kombination aus Amp und Gitarrenbox benutzt. Das lag daran, dass wir die Songs auf diesen Combo-Amps geschrieben haben und genau diese Stimmung auf das ganze Album übertragen wollten. Manchmal ist es für mich auch so, dass ich weiß, wie eine Gitarre klingen wird, wenn ich sie nur hochhebe. Du merkst sofort die Resonanz und das Gewicht und stellst dir vor, wie sie sich anhören wird. Ganz oft ist das aber auch eine schöne Überraschung und da kommen Töne raus, die du vorher noch nicht gehört hast. Davon gibt es auch ein paar coole Momente auf der Platte, die aus den vielen unterschiedlichen Ideen entstanden sind, die möglich sind, wenn fünf Typen entspannt an Musik herangehen.