SPIRITBOX

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Über Verantwortung, Druck und Computerviren

Nach dem Austritt bei IWRESTLEDABEARONCE machten sich Courtney LaPlante und ihr Mann Mike Stringer kurzerhand direkt an ein neues, eigenes Projekt namens SPIRITBOX. Nach zwei Jahren und viel Arbeit erschienen die ersten Songs – und gingen absolut durch die Decke. Im September erscheint „Eternal Blue“, das Debütalbum, und Sängerin Courtney kann diesen Release kaum erwarten.

Bei IWRESTLEDABEARONCE bist du als Nachfolgerin eingestiegen, bei SPIRITBOX bist du Gründungsmitglied. Wo liegen die Unterschiede?

Es gibt keine Vorurteile oder Erwartungen. Du machst einfach daraus, was du machen möchtest. Ich war nicht in vielen Bands. Ich habe eine mit meinem Bruder gehabt, als wir Teenager waren. Dann war ich bei IWRESTLEDABEARONCE, dort war ich für drei Jahre. Und jetzt SPIRITBOX. Ich hatte also nicht viel Erfahrung damit, Bands beizutreten, die es schon gab. Besonders in eine, die schon ein hohes Level erreicht hatte. Jeder Sänger, mit dem ich darüber gesprochen habe, sagt, dass es echt hart ist. Denn meistens wird die Band entdeckt und erreicht ihren Höhepunkt, bevor du dazukommst. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, aber normalerweise hat die Band dann wieder einen niedrigeren Status, wenn du einsteigst. Dann vergleichen dich alle mit deiner Vorgängerin, die sie mochten und in deren Musik sie sich verliebt hatten. Ich habe mal zu jemandem gesagt, dass ich mich gefühlt habe wie eine Stiefmutter. Und meine Stiefkinder mochten mich nicht. Ich möchte mich hier nicht als Opfer darstellen, ich hatte eine tolle Zeit in der Band und wir hatten tolle Fans! Aber es ist eine Erleichterung, nicht mehr für die Erwartungen von anderen zu leben. Nicht mehr die Lieder von jemand anderem zu singen, deren Kontext und Songwriting ich nicht verstehe. Und mir keine Gedanken mehr darüber machen zu müssen, dass ich mit einer Gruppe aus Menschen zusammenarbeite, in der ich nur bin, weil diese Gruppe einen Ersatz brauchte. SPIRITBOX sind ganz organisch zusammengekommen. Ich fühle mich jetzt viel wohler.

Es kommt mir so vor, als wärt ihr extrem schnell gewachsen und das in Pandemie-Zeiten. Geht es dir ähnlich?
Es ist total überwältigend. Mein Ziel für den Anfang war es, der Opener in einer Location mit 200 Leuten zu sein und 100 Dollar für den Abend zu kriegen. Aber in der Pandemie hat sich das vergrößert. Es gibt plötzlich viele Möglichkeiten für uns. Alle diese „normalen“ Ängste, die ich sowieso hätte, weil ich gut performen möchte und den Leute eine gute Show bieten will, auch das hat sich vergrößert und mit tausend multipliziert. Ich war schon nervös, unsere erste Show in UK zu haben, die ausverkauft war. Die Show sollten wir letztes Jahr spielen, aber dann kam die Pandemie. Also wurde sie abgesagt. Das wären 500 Leute gewesen. Jetzt, ein Jahr später ist unsere erste Show in UK das Reading Festival in Leeds. Ich meine, was?! Also ich freue mich und bin total dankbar, aber es fühlt sich total abstrakt an, weil bis jetzt alles nur online stattfindet. Ich wünschte, ich könnte vorspulen bis September, bis das Album rauskommt. Du hast sicher schon mit vielen Bands gesprochen, die so waren wie wir. Die denken, dass sie sich am Punkt des Durchbruchs befinden und kurz davor sind, eine richtig große Band zu werden. Aber dann versauen sie es. Ob sie mit dem Hype nicht klarkamen oder der doch nicht so groß war oder was auch immer. So möchte ich nicht sein. Ich möchte niemanden hängen lassen, auch nicht mich selbst.

Als ich euer Video zu „Constance“ gesehen habe, musste ich einfach weinen. Mein Opa hatte Alzheimer und ich habe noch nie ein Video gesehen, das diese Krankheit so akkurat und bildlich zeigt. Das hat mich komplett kalt erwischt.
Ich kann das Video selber nicht sehen, weil es mich so traurig macht. Ich habe mich wirklich schlecht gefühlt, nachdem wir es rausgebracht haben, weil es sehr viele Leute traurig gemacht und zum Weinen gebracht hat. Aber es war gut, es ist auch heilsam, einen Song zu hören, der dich dazu bringt, deine Emotionen rauszulassen und zu weinen. Wir wissen alle, dass unsere Großeltern nicht für immer da sein werden. Ich bin dankbar, dass ich mich bei meiner Oma mehr oder weniger darauf vorbereiten konnte. So auch Dylan, der Regisseur unseres Videos. Seine Großmutter heißt Constance und wir nannten den Song ihr zu Ehren so. Sie lebt noch, aber sie hat Alzheimer und er weiß, in welche Richtung es mit ihr gehen wird. Selbst wenn sie da sind, sind sie nicht da und werden schon von den Angehörigen betrauert. Ich habe meine Oma letztes Jahr verloren, aber zum Glück litt sie nicht an Alzheimer, sondern an anderen Krankheiten. Immerhin blieb ihr das erspart. Die Großmutter in dem Video ist übrigens keine Schauspielerin, sondern hat das zum ersten Mal gemacht. Sie hat sich für das Video beworben, weil sie so was einfach mal probieren wollte. Sie war toll. In dem Video weine ich auch, das war nicht geplant, ich habe nur geweint, weil alles so traurig war. Wenn wir den Song live spielen, werde ich vermutlich auch weinen!

Euer Album wird „Eternal Blue“ heißen. Du hast aktuell blaue Haare. Was war zuerst da – die Haarfarbe oder der Albumtitel?
Der Name des Albums! Wir haben es benannt, bevor wir überhaupt alle Songs geschrieben hatten. Ich habe etwas gehört über Computerviren, das war etwa 2019, und ich dachte, das ist der Name! Das war eine Software, die die NSA entwickelt hat. Dann haben aber Hacker mit Hilfe des Virus die Regierung von Michigan gehackt. Die haben damit viel lahmgelegt. Ich fand, dass das der coolste Name war, den ich jemals gehört hatte. Und die Haare: Ich ändere gerne meine Haarfarbe und wollte gerne kleine Hinweise auf die kommende Ästhetik geben. Also bevor wir irgendetwas veröffentlicht haben, färbte ich meine Haare blau und platzierte blaue Sachen in unseren Videos. Ganz unterschwellig.

Für mein Gefühl habt ihr die Songs auf dem Album sehr gut angeordnet. Es ist abwechslungsreich und man wird nicht nur mit einem harten Song nach dem anderen konfrontiert. Wie seid ihr an die Sache herangegangen?
Album Sequencing ist uns sehr wichtig. Wir haben viele Kombinationen ausprobiert. Wir wussten, dass „Holy roller“ in die Mitte gehört. „Constance“ sollte immer der letzte Song sein. Als wir den ersten Song, „Sun killer“, aufnahmen, war uns klar, dass er der Opener sein sollte. Also hatten wir Anfang, Mitte und Ende. Alles andere haben wir bewegt und wollten, dass es nicht zu überwältigend wird. Ich selber mag es nicht gerne, wenn viele ähnlich klingende Songs aufeinander folgen. Wir wollten Luft zum Atmen lassen, es aber gleichzeitig aufregend halten. Wir haben viel über alles nachgedacht. Jeder soll es von Anfang bis Ende durchhören können. Viele wollen die Singles an den Anfang packen, aber wir haben über die Reihenfolge entschieden, bevor wir überhaupt wussten, was die Singles werden sollen. Das hat uns geholfen. Ich selber höre kaum Alben komplett durch.

Als Frau und Hörerin deines Podcasts „Good for a Girl“ muss ich fragen: Wie oft bekommst du den Satz „Für ein Mädchen ist sie ist gut“ noch zu hören?
Zu oft! Es wird besser, aber meine Erwartungen sind auch sehr niedrig. Doch ich glaube, dass es besser wird. Ich glaube, Social Media haben es einfacher für uns gemacht. Denn wir können unsere Follower jetzt direkt aufklären und müssen nicht hoffen, dass die Leute irgendwo einen Artikel über uns lesen. Wir können Postings dafür nutzen, den Leuten zu erklären, warum wir diesen Satz vielleicht nicht so gerne hören. Ich glaube, viele verstehen das und hatten einfach nie darüber nachgedacht. Ich habe das Gefühl, dass ich inzwischen weniger zum Objekt gemacht werde oder respektlos behandelt werde. Aber das hat auch damit zu tun, dass die Fans unserer Band sehr offen und nicht sexistisch oder misogyn und auch nicht rassistisch oder homophob sind.

Ihr werdet nächstes Jahr unter anderem bei Rock am Ring spielen, einem Festival, das in der Kritik war, weil nur ein sehr geringer Anteil Frauen in den Bands spielt. Wie stehst du dazu? Findest du das nachvollziehbar oder denkst du dir: „Na ja, ich bin eine Frau und damit ist ein erster Schritt getan“?
Beides. Ich hoffe, dass das der Start für meine Band ist und dass wir größer werden. Das ist mein Traum. Ich möchte eine erfolgreiche Musikerin sein. Aber da ist auch der andere Aspekt, die Verantwortung. Dass ich meine soziale Verantwortung steigen sehe und ich die Macht und den Einfluss habe, um eine Veränderung herbeizuführen. Festivals sind beeinflusst durch die Rock-Radios und da herrscht ein großes Problem. Denn dort wird gesagt, dass sie diese oder jene Musik nicht spielen wollen, weil weibliche Stimmen nicht gut performen. Deshalb werden sie nicht gespielt und deshalb werden sie nicht für Festivals gebucht. Denn dort werden bekannte Namen gebraucht, um Tickets zu verkaufen. Das ist so seltsam, dass das mit dem Geschlecht zusammenhängt. Denn es sollte eigentlich nur von der Musik abhängig sein. Aber so ist es leider nicht. Deshalb werden wir auch auf solchen Festivals spielen, um den Leuten zu zeigen, dass wir das können. Ich möchte spielen und möchte, dass die Leute mich als Musikerin respektieren und zeigen, dass ich der Herausforderung gewachsen bin. Denn wenn du einer Minderheit in deiner Szene angehörst, repräsentierst du genau diese Minderheit mit allem, was du tust. Sei es dein Geschlecht, deine sexuelle Orientierung oder deine Herkunft. Es ist komisch. Wenn ich es versaue, dann könnte das anderen Labels signalisieren: Oh, das funktioniert nicht, also nehmen wir keine Bands mit Frauen unter Vertrag. Und dann ist da noch der Tokenismus. Angenommen, ich headline ein Festival eines Tages. Dann sagt das Festival „Wir können nicht zwei Bands mit Frauen als Headliner haben.“ Die andere Band bekommt dann nicht die Chance. Weil sonst wäre es ein Gimmick, eine Art „Girl Stage“. So auch auf Touren. In meiner alten Band konnten wir eine Tour nicht spielen, weil die Headliner schon eine Band mit Frau als Support ausgesucht hatten. Aber sie wollten daraus keine „Girl Tour“ machen. Wir müssen mehr Diversität schaffen, damit das Genre überlebt. Ansonsten haben wir ein paar eingesessene Bands, aber das wird das Genre niemals an neue Hörer und an die neue Generation heranbringen. Wir müssen uns entwickeln oder wir werden aussterben.