TALCO

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Schwere Geburt

Eigentlich ist auf TALCO Verlass. Die seit 2001 aktive Band aus Marghera, einem Stadtteil von Venedig, liefert alle zwei oder drei Jahre ein neues Studioalbum ab. Neues Futter für die Fans, die jedes Konzert der sechsköpfigen Band zu einer feuchtfröhlichen Party machen. Vor vier Jahren ist das letzte reguläre Studioalbum „And The Winner Isn’t“ erschienen. Im Oktober 2020 sollte der Nachfolger „Videogame“ veröffentlicht werden. Alles war bereit, die Songs geschrieben und aufgenommen, das Album fertig gemischt, doch dann kam alles anders. Die Welt legte mit der Corona-Pandemie eine Vollbremsung hin und natürlich blieben auch TALCO nicht davon verschont. Doch jetzt, ziemlich genau zwei Jahre später, ist das neue Album „Videogame“ endlich raus. Sänger Dema und Gitarrist Jesus erzählen uns, wie sie mit dem ganzen Kuddelmuddel umgegangen sind.

Nach zwei langen Jahren Wartezeit steht „Videogame“ endlich in den Plattenläden. Was ist passiert?

Dema: Leider machte uns dieses verdammte Virus einen Strich durch die Rechnung. Wir wollten nicht riskieren, dass wir das Album nicht vernünftig promoten können, denn an eine Tour war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken. Deshalb haben wir den Veröffentlichungstermin verschoben, damit wir es auch live vorstellen können, wenn „Videogame“ erscheint. Wir sind einfach eine Live-Band. Ein Album herauszubringen ohne Konzerte, macht für uns überhaupt keinen Sinn. Ende 2021 sah es so aus, dass der Konzertbetrieb wieder anlaufen könnte, wir waren aber nicht sicher, ob wir der Entwicklung trauen können. Deshalb haben wir fünf neue Songs aufgenommen und auf die EP „Insert Coin“ gepackt, um die Promotion für das Album vorzubereiten.

In der Wartezeit auf „Videogame“ habt ihr „Locktown“, ein Akustik-Album mit einem besonderen Konzept, veröffentlicht . Wie ist diese Idee entstanden?
Dema: Das war eigentlich Zufall. Im Frühjahr 2020 sollten wir auf einem Festival spielen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich gerade sieben oder acht Songs für ein Akustik-Projekt geschrieben. Damals bekam unser Management einige Anfragen für Unplugged-Shows. Dann habe ich den Vorschlag gemacht, aus diesen sieben Songs ein ganzes Album zu machen und die auch aufzunehmen. Wir wollten einfach diese katastrophale Situation in etwas Positives verwandeln und für uns daraus eine neue Option schaffen. Akustik-Konzerte zu spielen war uns nichts Neues, das hatten wir schon viele Jahre lang gemacht. Also haben wir das Projekt TALCO MASKERADE ins Leben gerufen und sind damit dann auch auf Tour gegangen.
Jesus: Für uns war es eine richtige Herausforderung, die TALCO-Songs möglichst gut mit anderen Instrumenten klingen zu lassen. Viele Bands haben in dieser Zeit Zoom oder Skype benutzt, um zu Hause Songs zu schreiben und aufzunehmen. Wir hatten die Idee, Akustik-Songs aufzunehmen, aber schon lange im Hinterkopf, mussten sie nur immer wieder zurückstellen, weil wir ja normalerweise ständig auf Tour sind. Jetzt haben wir die zweijährige Konzertpause während der Pandemie genutzt und TALCO MASKERADE ist das Ergebnis.

TALCO MASKERADE steht nicht nur für ein Akustik-Album. Dazu gehört ja auch das ganze Konzept mit den Masken, oder?
Dema: Diese Masken haben natürlich ihren Ursprung im Karneval von Venedig. Wir wollten uns aber auch deutlich von TALCO abgrenzen. Damit unsere Fans nicht glauben, wir wären jetzt dauerhaft zur Akustik-Band mutiert. TALCO MASKERADE war ein Projekt von Bandmitgliedern von TALCO, aber es ist eben nicht TALCO. Es ist gar nicht so einfach, so ein Nebenprojekt zu promoten, denn wir wollten unseren Fans vermitteln, dass sie eine komplett andere Band sehen. Die spielen natürlich auch ein paar Nummern von TALCO im Akustik-Gewand, aber auch völlig neue Songs. Deshalb wollten wir die Hauptband und das Nebenprojekt klar voneinander trennen. Ich denke, für unser Publikum ist es gar nicht so einfach, die beiden Bands voneinander zu unterscheiden. Für mich ist das jedoch wie ein Konzert von LAGWAGON und eine Akustik-Show von Joey Cape. Das sind auch zwei völlig unterschiedliche Baustellen.
Jesus: TALCO MASKERADE sind eben nicht einfach nur TALCO unplugged. Sondern Musiker von TALCO, die neue Songs in einer Folkversion geschrieben haben. Die Songs sind nämlich auch ganz anders aufgebaut als TALCO-Songs. Auch die Einflüsse sind ganz andere. Die Musik von TALCO ist inspiriert von kalifornischem Punkrock und Ska-Punk-Bands wie SKA-P. Bei dem MASKERADE-Projekt ist es dagegen italienischer Folk. Wir haben zum ersten Mal völlig andere Instrumente ausprobiert wie Geige, Mandoline, Ziehharmonika oder Klavier.

Ist das Projekt TALCO MASKERADE damit abgeschlossen? Oder kommt das noch was?
Dema: Das Projekt wird weitergehen, wir planen auch schon, neue Songs für TALCO MASKERADE zu schreiben. Aber jetzt steht erst mal „Videogame“ im Vordergrund und ich denke, die Promotion des neuen TALCO-Albums wird uns etwa zwei Jahre lang beschäftigen. Deshalb haben wir gerade nicht genug Zeit, um neue Songs für das MASKERADE-Projekt auszuarbeiten. TALCO MASKERADE müssen also pausieren, wenn wir mit TALCO unterwegs sind.
Jesus: Das ist wie bei Superman und Clark Kent, die beiden siehst du auch nie gleichzeitig, haha. Außerdem ist TALCO MASKERADE ja auch aus der Not geboren. In der Pandemie, als an normale Konzerte nicht zu denken war. Deshalb haben wir mitgenommen, was ging. Jetzt wollen wir das Akustik-Projekt richtig aufziehen und Shows an besonderen Orten wie Amphitheatern spielen, wo die Musik von TALCO MASKERADE einen würdigen Rahmen bekommt. Aber dafür haben wir gerade nicht genug Zeit.

Zurück zu „Videogame“. Sind das eigentlich die Tracks, die ihr 2020 aufgenommen habt? Oder habt ihr die Songs nach zwei Jahren noch einmal neu eingespielt oder sogar verändert?
Dema: Es sind unverändert die Songs, die im Februar 2020 entstanden sind. Damit mussten wir auch schon einen Monat später fertig sein, damit wir sie zu Jason Livermore in den Blasting Room nach Colorado schicken können. Ende März haben wir die fertig gemischten und gemasterten Songs zurückbekommen und damit war das Ganze für uns abgeschlossen. Es gab keinen Grund, daran noch einmal etwas zu ändern. Wir haben das Album auch deshalb so konserviert, weil wir denken, dass es ein großer Schritt für uns ist. Als Musiker denkst du im Laufe deiner Karriere irgendwann darüber nach, was dein bestes Album sein könnte. Wenn man unsere Fans fragt, sagen sie wahrscheinlich „Mazel Tov“ und „Gran Galà“. Für mich ist „Videogame“ aber auf Augenhöhe mit den beiden. Deshalb wollten wir nichts mehr daran ändern.

Aber fühlt es sich nicht komisch an, Songs zu veröffentlichen, die schon zwei Jahre auf dem Buckel haben?
Jesus: Klar fühlt sich das ein bisschen merkwürdig an, aber in den vergangenen zwei Jahren haben wir auch keine Shows gespielt. Nur die Konzerte mit TALCO MASKERADE. Wir haben die Songs von „Videogame“ also noch nie live präsentiert, deshalb fühlt es sich für uns so an, als hätten wir das Album erst vor zehn Tagen aufgenommen. Abgesehen davon sind die Songs natürlich auch für unsere Fans neu, egal ob sie schon zwei Jahre existieren oder gestern erst geschrieben wurden.

„Videogame“ ist ja ein Konzeptalbum, ähnlich wie „Silent Town“. Das Hauptthema des Albums ist Angst. Wie bist du auf das Thema gekommen?
Dema: Seit „And The Winner Isn’t“ hatten wir das Gefühl, dass wir uns nur noch mit Politik beschäftigen. Wir wollten aber nicht in die Falle tappen, in die viele Bands irgendwann geraten: Dass sie sich ständig wiederholen. Ich wollte in meinen Texten nicht immer das Gleiche erzählen, selbst wenn die Fans das vielleicht gut finden. Ich möchte nicht am Ende meiner Karriere auf zehn Alben zurückblicken, die sich alle nur um dieselben Inhalte drehen. Das Konzept für „Videogame“ hat sich dann ganz automatisch ergeben, da ich mich in dieser Zeit sehr intensiv mit mir selbst beschäftigt habe. In den letzten zwei oder drei Jahren, in denen ich mit TALCO unterwegs war, hatte ich immer wieder mit Angststörungen zu kämpfen. Das ging sogar soweit, dass ich überlegt habe, aus der Band auszusteigen. Dieses Album zu schreiben, war also für mich wie ein Teil meiner Therapie. Aber ich wollte nicht nur über mich und meine Ängste sprechen, sondern die globale Dimension dieses Phänomens aufzeigen. Denn viele Menschen haben mit Angstgefühlen zu tun und können nicht damit umgehen. In der ersten Single „Muro di plastica“ beschäftige ich mich zum Beispiel mit den ganz realen Ängsten, die einen dazu bringen, aus seiner Heimat zu flüchten. Weil dort vielleicht Krieg herrscht oder eine Hungersnot. In dem Song geht es aber auch um den Hass, der diesen Menschen in den Ländern begegnet, in die sie geflüchtet sind. Auch andere Ängste sind Thema auf dem Album. In „Game over“ zum Beispiel geht es um die Angst, die Rassismus bei Betroffenen auslösen kann. Wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft ausgegrenzt werden. Die Angst, die Leute empfinden, wenn sie Flüchtlinge ablehnen, hingegen ist eigentlich irrational und wird ihnen nur durch Propaganda und die Medien suggeriert. In diesem Fall existiert die Angst gar nicht, sondern wird künstlich erzeugt.

Seid ihr selbst Gamer und zockt Videospiele?
Dema: Logisch. Ich mag vor allem japanische Arcade-Spiele wie „Street Fighter 2“. Ich spiele aber auch oft „Pro Evolution Soccer“. Vor ein paar Jahren habe ich fast täglich gezockt, aber das hat auch schon nachgelassen. Nur wenn ich ein neues Spiel habe, verbringe ich mehr Zeit an der Konsole. Früher war ich großer Fan von „SimCity“ oder „Dungeon Keeper“, da konnte man richtig in eine neue Welt abtauchen. Zu Hause haben ich eine Arcade-Konsole mit 25.000 Spielen.
Jesus: Ich bin sogar noch nerdiger. Ich spiele am liebsten Rollenspiele wie „World of Warcraft“ oder Echtzeit-Strategiespiele wie „Starcraft“. Games, mit denen man sich mehrere Stunden lang beschäftigen muss.

„Videogame“ ist Teil einer Trilogie. Also drei Alben, die einen Bezug zueinander haben. Erklärt doch mal, was alles dazugehört.
Dema: Gar nicht so einfach zu sagen, was Teil eins ist. Eigentlich sollte „Videogame“ Teil eins sein, weil aber das Album zwei Jahre nach hinten geschoben wurde, ist die EP „Insert Coin“ zum Auftakt der Trilogie geworden. Dadurch ist „Videogame“ nun eine Art von Prequel. Das zweite Kapitel stellt „Locktown“ dar, über eine Reflexion, in der sich der Protagonist mit neuem Bewusstsein aufmacht, seinen Weg zu finden. Das dritte Kapitel ist in Arbeit, aber wir müssen erst noch das passende Format dafür rausfinden, entweder TALCO oder MASKERADE.

Warum arbeitest du so gerne mit lang angelegten Themenkomplexen? Alben, die thematisch zusammengehören? Geschichten, die nicht mit einem Song oder Album auserzählt sind?
Dema: Ich denke, man merkt an den vielen Songs, die ich geschrieben habe, dass ich nichts von Stillstand halte, ich glaube an Veränderung und an das Streben danach, mich zu verbessern. Deshalb erzählen wir Geschichten, die sich über mehrere Alben hinweg entwickeln. Das bedeutet nicht, die Vergangenheit zu leugnen, sondern ihr einen angemessenen Platz zu geben und gleichzeitig der persönlichen und kulturellen Entwicklung eines Individuums zu folgen. Ich liebe das Album „Tutti Assolti“, aber nach zwanzig Jahren könnte ich diese Platte so nicht mehr machen. Ich mag es einfach, einen Charakter weiterzuentwickeln und dies mit den Songs zu dokumentieren. Manchmal ändern sich Lebensumstände innerhalb von wenigen Jahren komplett. Ich bin großer Fan von Filmen, in denen der Protagonist mehrere schwere Prüfungen bestehen muss und immer wieder mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert wird, um am Ende des Films sein Ziel zu erreichen. Deshalb betrachte ich vielleicht auch die Alben von TALCO wie Filme. In meinen Songs geht es aber auch immer um die Evolution der Band. Wie wir älter werden, wie wir uns verändern.

Lasst uns über ein paar Songs sprechen. Leider kann ich kein Italienisch, deshalb musst du mir verraten, was zum Beispiel hinter dem Song „Descarrila“ steckt.
Dema: „Descarrila“ bezieht sich auf ein berühmtes Lied des italienischen Singer-Songwriters Francesco Guccini aus den Siebzigern. „La locomotiva“ gilt als Soundtrack des Idealismus jener Jahre, der Romantik des besiegten, aber immer träumerischen Revolutionärs. Leider haben wir festgestellt, dass die Linke jetzt in ihren rund fünfzig Jahre alten Ideen stagniert, ohne jeden Wunsch nach neuen Ansätzen. „Descarrila“ spricht von dieser Lokomotive, die schon lange entgleist ist, auch wegen einiger ähnlicher Bewegungen, die das Recht beanspruchten, eine Menge zu befehligen, und nun im Museum gelandet ist.

Der letzte Song auf dem Album heißt „Ultimo viaggio“. Das klingt sehr endgültig. Was hat es damit auf sich?
Dema: Das ist ein Lied für meinen Hund Zaza, der 2018 gestorben ist. Er war nicht das intelligenteste Lebewesen, aber voller Liebe. Er war immer lustig und hat für gute Stimmung gesorgt. In dem Song erzähle ich von der letzten Fahrt zum Veterinär und von der Furcht, ihn zu verlieren. Zaza hatte Krebs und lag mehr oder weniger schon im Sterben. Manchmal ist er aber aus dem Dämmerzustand aufgewacht und hat mich angelächelt. Das war wie ein letztes Geschenk von ihm. „Ultimo viaggio“ ist also die letzte Reise, die Zaza angetreten hat, nachdem wir zwölf Jahre zusammen verbracht hatten.

„La venutadi di banalità“ heißt übersetzt: Die Ankunft des Bedeutungslosen. Worum geht es in diesem Song?
Dema: „La Venutadi“ steht in Italien für die Ankunft des Messias, es ist also ein Ausdruck aus dem religiösen Kontext. Der Messias ist in unserem Fall die Banalität, das Bedeutungslose. Damit meinen wir die sozialen Medien, in denen alle Inhalte auf ein lustiges Meme oder einen kurzen Videoclip reduziert werden. Aber trotzdem betrachten die Menschen diese Banalitäten als neuen Gott und hängen die ganze Zeit am Smartphone. Meine ganz persönliche Angst vor Verblödung und Kulturverlust.

Der Sound von „Videogame“ wirkt sehr kalifornisch. Sehr dynamische und sonnige Songs. Ihr klingt fast schon wie eine Fat Wreck-Band. Woher kommt dieser Westküsten-Vibe?
Dema: TALCO waren immer eine Punkband mit Bläsern, die auch immer diesen Folk-Aspekt in ihrem Sound hatte. Aber mit dem letzten regulären Album „And The Winner Isn’t“ wollten wir auch das zehnjährige Jubiläum unseres Albums „Combat Circus“ feiern. Deshalb klingt das auch wieder wie ein echtes Punkrock-Album, nicht so sehr nach Punk-Chanka, also die ganz eigene Mixtur, bei der wir den Patchanka-Sound von MANO NEGRA mit unseren Uptempo-Punk-Wurzeln kombiniert haben. „And The Winner Isn’t“ war auch das erste Album, bei dem wir mit Bill Stevenson und Jason Livermore vom Blasting Room gearbeitet haben. Wir wollten unbedingt für TALCO diesen amerikanischen Punksound haben. Nach dieser Erfahrung haben wir mehr Songs in dieser Richtung geschrieben, deshalb ist „Videogame“ auch eines der schnellsten TALCO-Alben bisher. Natürlich ist unser Sound von Fat Wreck Chords beeinflusst, ich höre diese Musik schließlich, seit ich 16 bin. Damals hatte ich ein ganzes Regal mit diesen Scheiben zu Hause, also fühlt es sich völlig selbstverständlich an, meinen frühen Einflüssen nachzugehen.

Ihr wart ja auch die einzige europäische Band, die von Fat Mike zu den diesjährigen Europa-Terminen der „Punk In Drublic“-Tour eingeladen wurde. Das war bestimmt eine große Ehre, oder?
Dema: Das war eine der tollsten Erfahrungen in unserer bisherigen Karriere. Anfangs dachte ich, die Mail von Fat Mike wäre nicht echt – da will mich jemand verarschen. Als es sich dann als reales Angebot herausgestellt hat, waren wir natürlich sehr enthusiastisch, vor allem weil wir einen sehr guten Slot hatten. Vor uns haben Bands wie IGNITE oder THE BOMBPOPS gespielt. Das war erstaunlich. Wir dachten eigentlich, die betrachten uns als Vorband aus der Provinz, aber das war überhaupt nicht so.
Jesus: Vor allem, weil wir natürlich auf Italienisch singen. Das heißt natürlich, dass man uns in weiten Teilen Europas überhaupt nicht verstehen kann. Wir sind zum Beispiel das erste Mal überhaupt in Norwegen und Schweden aufgetreten. Wir haben unsere Show einfach durchgezogen, wie wir das immer machen, und das Publikum ist total abgegangen, obwohl sie wahrscheinlich keine Ahnung hatten, worüber wir singen. Da haben wir mal wieder gemerkt, dass Musik eine universelle Sprache ist und die Menschen überall erreicht. Außerdem war es natürlich total spannend, mit diesem großen Tross unterwegs zu sein. Mit großen Bands wie NOFX oder PENNYWISE Abend für Abend aufzutreten und sich in dieser Zeit auch kennen zu lernen. Das dürfte wahrscheinlich der Traum von jedem Punkrocker sein.

Hat euch Mike eigentlich erklärt, warum er sich ausgerechnet euch ausgesucht hat?
Dema: Vor allem hat er natürlich eine europäische Band für sein Festival gebraucht und er hat uns wohl für einen sehr bekannten europäischen Act gehalten. Außerdem war er auf der Suche nach einer jüngeren Band, auch als eine Art Frischzellenkur für „Punk In Drublic“. Denn es sind ja in den vergangenen Jahren immer die gleichen alten US-Bands nach Europa gekommen.
Jesus: Mike kennt uns schon viele Jahre, denn wir sind uns immer wieder auf Festivals begegnet. Er ist wirklich ein großer Fan von Ska-Punk. Außerdem haben NOFX vor einiger Zeit eine Show in Padua gespielt, und damals haben wir Mike und seine Kollegen mit nach Venedig genommen und ihnen die Stadt gezeigt. Es gab also schon vor „Punk In Drublic“ eine Verbindung. Ich denke, wir waren eine gute Wahl für ihn.

Ihr seid eine klassische DIY-Band. Im Lockdown habt ihr euch sogar ein eigenes Studio eingerichtet, um eure Alben aufzunehmen. Warum ist euch das wichtig?
Dema: Es gibt einfach einen Unterschied zwischen einem Mainstream-Projekt und unserer Band. Es kann sein, dass so eine Mainstream-Sache kurzfristig erfolgreich ist. In dieser Zeit holt das Management aus der Band alles heraus, was geht. Dann kann die Karriere aber auch schnell wieder vorbei sein. Wir wollen so viel und so lange wie möglich auf Tour sein, also kann das nicht unser Weg sein. Wir brauchen vielleicht noch ein paar Jahre, bis wir so erfolgreich sind wie so eine Mainstream-Band, aber wir arbeiten lieber nachhaltig an unser Karriere, um möglichst lange die Dinge tun zu können, die wir lieben. Dieses Level irgendwann aus eigener Kraft erreichen zu können, ist das beste Geschenk, das wir uns selbst machen können. Außerdem hat sich das Musikbusiness in den letzten Jahren gewaltig verändert. Es ist alles noch viel kommerzieller geworden. Im Lockdown habe ich mir das Biopic „Bohemian Rapsody“ über Freddie Mercury und QUEEN angeschaut. Heute wäre es undenkbar, dass eine Band beim Management eine siebenminütige Single mit Operngesang durchsetzt. Die Musiker stehen bei den Geschäftsentscheidungen nicht mehr im Vordergrund. Das Management macht die Regeln für den Erfolg. Da bleibt die Kreativität auf der Strecke und das finde ich merkwürdig. Die Lösung für uns ist deshalb, alles selbst zu machen.

Welche Bands waren in den Anfangstagen wichtig für euch?
Dema: Für TALCO gab es immer viele Einflüsse. Natürlich die unzähligen Fat Wreck-Bands wie NOFX, NO USE FOR A NAME, MAD CADDIES oder GOOD RIDDANCE. Damals habe ich mir fast jede Platte von Fat Wreck Chords angehört. Dann gibt es aber auch einige italienische Folk-Sänger aus den Siebzigern, die uns wichtig waren, wie Fabrizio De André, der übrigens mit seiner Lebensgefährtin auf Sardinien entführt und erst nach vier Monaten und Zahlung eines sehr hohen Lösegeldes wieder freigelassen wurde. Aber auch Francesco Guccini oder Franco Battiato. Natürlich IRON MAIDEN, denn wir sind auch große Metal-Fans. Wir haben auch mit TALCO angefangen, weil wir auf unseren Instrumenten nicht gut genug waren, um ein Metalband zu gründen. Haha! Aber natürlich haben für uns auch italienische Punkbands eine Rolle gespielt, wie BANDA BASSOTTI oder PERSIANA JONES, genauso wie unsere Freunde SKA-P oder MANO NEGRA. Letztere waren übrigens verantwortlich für die musikalische Weiterentwicklung, die wir nach „Combat Circus“ vollzogen haben. Am Anfang waren wir noch sehr von Punkbands inspiriert, aber dann hat uns der Sound von MANO NEGRA ziemlich begeistert. Wir haben damals verstanden, dass wir unseren eigenen Stil weiter ausbauen müssen. Deshalb haben wir von da an unsere italienischen Folk-Wurzeln zugelassen.

Wie war die Punk-Szene in Italien, als ihr vor über 20 Jahren mit TALCO angefangen habt?
Dema: Damals war die Punk-Szene mausetot. Die beste Zeit für Punkrock aus Italien war Anfang der Neunziger. Nachdem „Dookie“ von GREEN DAY herauskam, ging alles den Bach runter. Einige italienische Bands sind zwei Jahre, nachdem sie bei einem Majorlabel unterschrieben haben, von der Bildfläche verschwunden. Zu dieser Zeit haben die Leute angefangen, lieber Nu Metal als Punkrock zu hören, so ist dem italienischem Punkrock damals die Puste ausgegangen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass Enrico von LOS FASTIDIOS, der unsere ersten drei Alben produziert hat, zu uns sagte, mit dem vierten Album sollten wir ins Ausland gehen. Er sagte damals, wir sollten uns so schnell wie möglich einen Namen außerhalb von Italien machen, um erfolgreich zu sein. Wir haben uns dann von Deutschland aus nach Spanien, Osteuropa, Österreich und in die Schweiz vorgearbeitet. In Italien hatten wir es immer schwer, auch weil die alteingesessenen Bands immer ziemlich egoistisch waren und Angst hatten, zu viel vom Kuchen abzugeben. Der Kampf um die wenigen verbliebenen Auftrittsmöglichkeiten wird erbittert geführt. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Andere Bands wie SKASSAPUNKA haben es wie wir gemacht und haben ihr Glück im Ausland gesucht. Wenn du Punk-Festivals in Italien und in Deutschland vergleichst, befindest du dich auf zwei verschiedenen Planeten.

Wie kam es, dass ihr eure Karriere außerhalb von Italien in Deutschland gestartet habt? Woher kommt diese Verbindung?
Dema: Deutschland war einfach das Land, in dem wir unsere erste Tour außerhalb von Italien gestartet haben. Wir sind von Anfang an mit der deutschen Mentalität gut zurechtgekommen. Wir waren damals mit einem deutschen Tourmanager unterwegs, der uns jede Menge Tipps gegeben hat. Wir haben verstanden, wie wichtig es ist, immer hart zu arbeiten. Wir bekommen nichts geschenkt, sondern müssen uns anstrengen, um etwas zu erreichen. Ich denke, das ist der Grund, warum uns die Menschen in Deutschland mögen und warum wir Deutschland lieben. In meinen Augen ist das Publikum in Deutschland, was Partizipation und Attitüde betrifft, das beste, was wir in Europa finden können.

Wie viel Zeit verbringt ihr in Deutschland übers Jahr verteilt?
Dema: Während der Konzertsaison haben wir zwei Schwerpunkte, das sind Deutschland und Spanien. Von etwa sechzig Konzerten im Jahr spielen wir zwanzig oder dreißig in Deutschland. Wenn unsere Tour in Deutschland endet, bleiben wir meistens noch eine Weile da und machen Ferien. Dann wohnen wir in einer Wohnung in Berlin, die wir angemietet haben. In Berlin leben viele Leute, mit denen wir zusammenarbeiten: Destiny Records, Muttis Booking und Long Beach Records. Von dort aus werden auch unser Merchandise und der Ticketverkauf gesteuert und viele Freunde von uns haben Restaurants in Berlin.

Habt ihr jemals darüber nachgedacht, ganz nach Berlin überzusiedeln, wie es THE OFFENDERS gemacht haben?
Dema: Vielleicht eines Tages, wer weiß. Aber ich lebe gerne in Italien. Da bin ich geboren, meine Familie und viele Freunde sind dort. Gerade haben wir uns hier auch ein Aufnahmestudio eingerichtet. Außerdem reise ich gerne, bin ständig unterwegs. Deshalb macht es momentan wenig Unterschied, wo ich meinen Wohnsitz angemeldet habe.

Vor ein paar Jahren habt ihr euch auch in den deutschen Fußballclub FC St. Pauli verliebt. Wie ist diese Beziehung entstanden?
Dema: Die Fans von St. Pauli sind bei uns in Italien ziemlich bekannt, deshalb wollten wir ihnen 2008 einen Song widmen. Dann hat sich bei einem Konzert im Hafenklang in Hamburg ein direkter Kontakt ergeben und so haben wir eine Kollaboration gestartet.
Jesus: Angefangen hat alles mit einer Einladung ins Millerntor-Stadion. Es hat uns damals überrascht, ein Spiel in der Zweiten Bundesliga mit 20.000 Zuschauern zu sehen. Davon waren wir so begeistert, dass wir eine Benefiz-Single mit dem Song „St. Pauli“ aufgenommen haben, deren Erlöse komplett an das Projekt Fanräume ging. Das sind selbstverwaltete Räume im Stadion für die Fanszene. Außerdem haben wir 2010 beim Festival zum hundertjährigen Jubiläum des Vereins vor dem Stadion gespielt. Gemeinsam mit Bands wie SLIME, THE REAL McKENZIES oder PANTEÓN ROCOCÓ. Und auch beim Album „And The Winner Isn’t“ gab es eine Kollaboration mit St. Pauli. Damals haben direkt nach dem Heimspiel gegen Holstein Kiel ein akustisches Release-Konzert in den Fanräumen gespielt.

Ende der Achtziger haben DIE TOTEN HOSEN bei einer Tour eine D-Mark von jedem Ticket gespendet und mit dem Betrag von rund 200.000 Mark ihrem Lieblingsverein Fortuna Düsseldorf einen neuen Spieler gekauft. Wäre das auch eine Option für euch?
Jesus: Warum nicht? Haha! Dema ist großer Fußballfan und hat selbst auch ziemlich gut gekickt.
Dema: Ich habe im Verein gespielt, bis ich 19 war, danach habe ich aufgehört. Aber Kicken macht mir immer noch riesigen Spaß.

Gibt es in Italien eigentlich einen Club, der vergleichbar ist mit dem FC St. Pauli, mit so einer linksgerichteten Fanszene?
Dema: In Italien gibt es jede Menge linksgerichtete Fanprojekte, aber keines davon ist so groß und so gut organisiert wie die Fans von St. Pauli. Zum Beispiel beim AS Livorno. In den Siebzigern gab es beim AC Mailand eine große Gruppe linksorientierter Ultras namens Fossa dei Leoni, aber die existiert nicht mehr.
Jesus: Bei den meisten Clubs in Italien geht es mittlerweile nur noch um Geld. Die Ticketpreise sind inzwischen astronomisch hoch. Ich denke, dass es die Seria A nur noch ein paar Jahre geben wird, wenn sich da nichts ändert. Abgesehen davon haben große Vereine wie Lazio Rom, Inter Mailand, Hellas Verona oder Juventus Turin viele faschistische Fans. Die Ultras und die rechtsgerichtete Fanszene regieren im Stadion. Viele Familien mit Kindern trauen sich wegen der Gewalt schon seit Jahren nicht mehr zu den Spielen. Immer wieder gibt es rassistische Vorfälle, wenn die Fans Spieler mit dunkler Hautfarbe übel beleidigen. Die Vereine bekommen dann zwar immer saftige Strafen aufgebrummt, aber an der Sache ändert das nichts. Rassismus ist also ein Riesenproblem im italienischen Fußball. Wenn sich nicht bald etwas ändert, geht irgendwann keiner mehr ins Stadion.

Ihr kommt aus Marghera, das ist der auf dem Festland gelegene Teil von Venedig. Wie erlebt ihr die Veränderungen im größten Publikumsmagneten Italiens?
Jesus: In Venedig gibt es natürlich viele Probleme mit Übertourismus. Jedes Jahr kommen etwa zwei Millionen Besucher in die Stadt, dabei leben im historischen Zentrum, das ins Wasser gebaut ist, gerade mal 50.000 Menschen. Deshalb haben sie jetzt beschlossen, ab 2023 Eintrittskarten für die Stadt zu verkaufen, wie für ein Museum. Damit wollen sie die Besucherströme besser kontrollieren.
Dema: In meinen Augen ist das Problem, dass sie nur noch über Tourismus nachdenken und nicht darüber, was gut für die Stadt und ihre Kultur ist. Für uns ist das Problem nicht so groß, weil wir auf dem Festland wohnen, aber wenn du auf den Inseln lebst, kannst du an manchen Tagen kaum deine Wohnung verlassen, weil sich so viele Menschen durch die engen Gassen drängen. Außerdem ist der schnelle Tourismus ein großes Problem. Kreuzfahrtschiffe, die bei uns anlegen, jede Menge Menschen ausspucken, durch die Stadt schleusen und wenige Stunden später wieder ablegen. Da gibt es auch oft Sicherheitsprobleme, weil diese riesigen Schiffe eigentlich viel zu groß sind für Venedig. Erst vor drei Jahren hat es einen schlimmen Unfall gegeben, als ein Kreuzfahrtschiff ein Touristenboot gerammt hat, bei dem sogar Menschen verletzt wurden. Über die Kreuzfahrtschiffe in Venedig streiten sich die Politiker schon seit Jahren, aber es geht natürlich auch um sehr viel Geld.
Jesus: Dann ist da natürlich noch das große Problem mit der Klimaveränderung. Wenn man jetzt nichts dagegen unternimmt, wird Venedig in zwanzig oder dreißig Jahren im Wasser versinken. Der Meeresspiegel steigt und gleichzeitig sinkt der Boden unter der Stadt um einige Millimeter im Jahr. In den vergangenen hundert Jahren waren es insgesamt 23 Zentimeter. Deshalb hat man inzwischen ein gigantisches Schleusensystem mit Unterwasserbarrikaden namens MO.S.E. eingerichtet, um die Bewohner vor Hochwasser zu schützen. In unseren Augen wird es aber nicht lange gegen die Fluten helfen. Das Projekt ist in unseren Augen ein Symbol für politische Gleichgültigkeit und Korruption. Immer das Gleiche.

In diesem Sommer leidet Europa unter einer extremen Hitzewelle. Auch eine Auswirkung von der Klimakatastrophe. Wie schlimm ist es in Venedig?
Dema: In Venedig sind wir von der Dürre zum Glück nicht so stark betroffen wie andere Regionen Italiens. Der Gardasee oder größere Flüsse wie der Po haben viel Wasser verloren, in der Lombardei oder im Piemont wurde sogar der Notstand ausgerufen. Tagsüber war es verboten, Autos zu waschen, Schwimmbäder oder Pools aufzufüllen oder Gärten und Sportplätze zu bewässern. Bei uns war das Hauptproblem in diesem Sommer eher die Berge. In den Dolomiten sind die Gletscher so stark geschmolzen, dass immer wieder große Brocken abgebrochen und ins Tal gestürzt sind. Dabei sind einige Bergsteiger ums Leben gekommen. Das ist so noch nie passiert. Wir müssen uns also wirklich Gedanken um unser Klima machen. Das geht nicht so schnell vorbei wie eine Pandemie. Das Problem in Italien ist, dass man dort nur an Heute denkt und nicht an Morgen. Dabei müssten sich sogar die Verantwortlichen in der Tourismusbranche langsam Gedanken machen, denn wenn Venedig absäuft, kommen auch keine Touristen mehr.

Venedig ist ja bekannt als die Stadt der Verliebten. Auch für euch als Bewohner? Kennt ihr besonders romantische Plätze dort?
Jesus: In Marghera auf dem Festland haben wir natürlich unsere kleinen, verborgenen Ecken. Aber wenn du in den historischen Stadtkern auf der Insel willst, gibt es dort nur Touristen.
Dema: Wir sind ja jetzt raus aus dem Alter, unsere romantischen Tage sind schon eine Weile her, haha. Aber als ich noch jünger war, mochte ich das Castello-Viertel sehr gerne. Ich bin in Venedig zur Schule gegangen und war dort auch an der Universität, um Geschichte zu studieren. Außerdem hatte ich beim berühmten Karneval in Venedig immer viel Spaß. Für romantische Momente würde ich tatsächlich die Gondeln empfehlen. Vom Wasser aus hat man eine ganz eigene Sicht auf die Stadt. Ganz anders, als wenn man zu Fuß unterwegs ist.

Italien wurde sehr hart von der Corona-Pandemie getroffen. Im Frühjahr 2020 war es bei euch in Norditalien besonders schlimm. Als Hotspot galt vor allem Bergamo. Wie habt ihr diese Zeit erlebt?
Dema: Ich habe diese Zeit überraschend gut überstanden, aber ich hatte riesige Angst mich anzustecken, weil ich chronischer Hypochonder bin. Venedig galt als Hochrisiko-Gebiet, deshalb waren wir zwei Monate lang eingesperrt. Irgendwann habe ich aber entdeckt, dass ich vor allem Angst davor habe, meine Stimme zu verlieren, das Risiko ist bei Corona aber nicht gegeben. Dann habe ich mich entspannt und begonnen, die Ruhe und die menschenleeren Gassen zu genießen. Sehr enttäuscht hat mich in dieser Zeit aber die Art, wie die Leute auf den Lockdown und den Notstand reagiert haben. Der Egoismus erlebte eine Blütezeit. Es gab bei uns nicht eine kollektive Anstrengung, mit der Situation umzugehen. Jeder hat vor allem an sich gedacht. Jeder Geschäftsmann wollte die dramatische Lage in Italien für seinen Profit nutzen. Als jemand, der sich auf medizinische Studien und wissenschaftliche Fakten verlässt, konnte ich es nicht ertragen, wie so viele Menschen auf Verschwörungsmythen und falsche Experten hereingefallen sind. In der Pandemie ist mir so richtig bewusst geworden, wie weit der Verfall von Werten und Humanismus in unserer Gesellschaft bereits vorangeschritten ist.
Jesus: Kurz vor Beginn des Lockdowns haben wir noch unser Album „Videogame“ aufgenommen. Dann haben wir uns erst mal zwei Monate lang um uns und um unsere Eltern gekümmert. Wir sind einfach zu Hause geblieben und haben unsere Batterien für TALCO aufgeladen. Dann haben wir das MASKERADE-Projekt gestartet und das Album „Locktown“ geschrieben und aufgenommen. Damit konnten wir dann Ende 2020 ein paar kleinere Shows spielen. Die schwierigste Phase für uns als Band kam 2021, denn von der italienischen Regierung gab es für uns als Künstler fast gar keine Unterstützung.
Dema: Dabei haben wir die ganze Zeit gearbeitet, wir haben uns sogar ein eigenes Studio eingerichtet. Wir hatten das Gefühl, dass sich niemand um uns kümmert. Auch von unseren Fans kam in dieser Zeit nicht viel, deshalb haben wir uns in dieser Phase ziemlich verlassen gefühlt.
Jesus: Zum Glück haben wir weder Verwandte noch Freunde durch Corona verloren. Aber ich denke, wir haben einen Teil unseres Publikums durch diese Pandemie verloren. Viele Menschen beschäftigen sich jetzt mit anderen Dingen. Gerade die Jüngeren haben zwei Jahre Schule aufzuholen, manche haben ihr Examen verpasst. Darauf müssen sie sich jetzt konzentrieren. Viele haben aber auch mentale Probleme davongetragen, ich mache mir wirklich Sorgen um diese Corona-Generation. Deren Verbindung zu anderen Menschen ist nachhaltig gestört.

Wie lief es finanziell für euch als Band? Den größten Teil eures Einkommens verdient ihr ja on the road.
Jesus: Wir haben überlebt, nicht mehr und nicht weniger. Einige von uns mussten Nebenjobs annehmen, um über die Runden zu kommen, andere konnten von ihren Ersparnissen leben. Ich wollte zum Beispiel Ende 2019 das Haus kaufen, in dem ich mit meiner Familie lebe. Damals habe ich als Musiker gut verdient und hätte immer meine Raten bezahlen können. Im Frühjahr 2020, als ich den Kreditvertrag unterschreiben wollte, sagte die Bank, das gehe nicht. Ich würde als Musiker nichts mehr verdienen und könnte nicht mehr arbeiten. Also musste ich mir andere Tätigkeiten suchen, um das Geld aufzutreiben. Ich denke, das wird auch so bleiben, denn wenn der nächste Lockdown kommt, stehe ich vor dem nächsten Problem.
Dema: Ich rechne mir immer genau aus, was ich brauche, um bis zur nächsten Tour finanziell gut durchzukommen. Das war alles gut kalkuliert, aber als der Lockdown kam, ist es bei mir richtig eng geworden. Wir sind ja keine Rockstars, die im Geld baden. Wir können unsere Steuern bezahlen und unser Leben finanzieren, aber große Sprünge können wir nicht machen. Wenn wir keine Konzerte spielen können, haben wir also schnell ein Problem.

Zum Glück könnt ihr ja inzwischen wieder auf Tour gehen. Hat sich nach der Pandemie irgendwas verändert? Beim Publikum? Auf Festivals?
Jesus: Wir hatten Angst davor, als es wieder losging. Aber zum Glück ist keine unserer Befürchtungen eingetreten. Unsere Konzerte waren wie immer gut besucht und die Stimmung war ausgelassen, wie wir das kennen. Die großen Festivals, auf denen wir gespielt haben, wie Wacken oder Hellfest, waren alle ausverkauft. Die Leute haben gepogt und sich in den Armen gelegen, als ob nichts gewesen wäre. Am Anfang hat man noch viele Menschen mit Maske im Publikum gesehen, aber inzwischen sind die Masken auch wieder verschwunden.
Dema: Die Nachwehen der Pandemie spürt man eher bei den Mitarbeitern. Viele aus der Branche haben sich in diesen zwei Jahren Stillstand einen neuen Job gesucht und kommen nicht mehr wieder. Außerdem gab es große Probleme mit den Flügen. Da ist totales Chaos ausgebrochen, denn unzählige Flüge wurden gecancelt. Ich denke dieses Jahr ist für Musiker, Promoter und alle aus der Branche stressiger als fürs Publikum. Zur Zeit spielen wir so viele Konzerte, dass wir kaum Zeit zum Schlafen haben, weil zudem etliche Shows aus den zwei Corona-Jahren nachgeholt werden müssen.
Jesus: Seit Anfang 2019 waren wir mit einer spanischen Crew unterwegs. Diese Jungs waren alle älter als wir. Nach der Pandemie haben sie jedoch beschlossen, zu Hause zu bleiben und nur noch im Homestudio zu arbeiten. Also haben wir uns entschieden, eine neue Crew zu engagieren, die nur aus Italienern besteht. Alles Freunde von uns. Außerdem liefert uns unser neuer Live-Mischer wieder einen punkigeren Sound als sein Vorgänger. Mit ihm sind wir sehr glücklich gerade. Allerdings befürchte ich, dass wir vor einem neuen Problem stehen, denn durch die aktuelle Energiekrise steigen überall die Preise und das betrifft auch Spritkosten für den Nightliner oder die Preise von Flugtickets. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.

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Die Alben
Parallel zum Interview baten wir die Band, uns ihre Alben in eigenen Worten vorzustellen. Denn von Anfang an zeichnet die Veröffentlichungen von TALCO aus, dass hier jeweils ein durchdachtes Konzept umgesetzt wird.

„Tutti Assolti“ (2004, Kob)
Das erste Album vergisst man natürlich nie, aber es ist bei aller Unreife auch eine Art Greatest-Hits-Sammlung unserer „Garage-Zeit“. Es war unser erstes Mal in einem professionellen Aufnahmestudio, wobei wir noch sehr unerfahren waren, was das Schreiben als auch das Aufnehmen von Songs anging. Das führte aber auch zu einer gewissen Unmittelbarkeit, die vielleicht etwas roh war, aber gleichzeitig kraftvoll. Inhaltlich ist es wohl das kompromissloseste Album unserer Karriere, mit Liedern über die US-Außenpolitik, den Widerstand der Partisanen, den Einfluss der Kirche, die Berlusconi-Ära in Italien und den G8-Gipfel in Genua. Viele Themen, mit denen wir uns sicherlich weniger tiefgründig als heute auseinandersetzten, manchmal in bloße Slogans verfallend, aber voller Leidenschaft. Musikalisch gab es noch keinen klar definierten Stil, aber man kann durchaus die Combat-Ska-Punk-Einflüsse von Bands wie BANDA BASSOTTI und SKA-P erkennen, plus eine Prise Skacore aus Kalifornien. Diese Einflüsse, auch wenn sie später zunehmend an Bedeutung verloren, trugen dazu bei, das Album so musikalisch überzeugend zu machen, dass es für ein Debüt doch einigermaßen viel Aufmerksamkeit genoss. Einige Songs sind auch heute noch Teil unseres Live-Sets, zum Beispiel „L’odore della morte“, „Notti cilene“ und „Signor Presidente“.

„Combat Circus“ (2006, Kob)
Dieses Album markierte die Geburt von TALCO, wie man sie heute kennt. „Combat Circus“ basiert auf den Einflüssen von MANO NEGRA, nur eben mit mehr Distortion. So entstand „Punkchanka“, der typische TALCO-Trademarksound, dank dem es möglich war, auf einer Punkrock-Basis bei jedem Album andere Musikgenres auszuprobieren, und gleichzeitig unverwechselbar zu bleiben, mit schnellen Tempowechseln zwischen sanfter Strophe und energischen Refrains und einer mitreißenden Bläsersektion. Lieder wie „Tortuga“, „La carovana“ und „Testamento di un buffone“ gehören nach wie vor zu den Publikumslieblingen. Außerdem war es auch das erste echte TALCO-Konzeptalbum, vielleicht noch aus einer etwas ängstlichen jugendlichen Perspektive und nicht auf dem Niveau einer echten Geschichte, aber beruhend auf einem gemeinsamen Motiv, das die verschiedenen Inhalte verbindet. Das Hauptthema war damals die Krise der italienischen Linken im Spannungsfeld von Rückwärtsgewandtheit und Weltoffenheit nach dem G8-Gipfel in Genua. Mit dem Bild von einem Zirkus wird diese Krise in Songs beschrieben, die sich mit Themen befassen wie dem lateinamerikanischen Idealismus, dem Aufkommen der neuen Rechten, dem Engagement humanitärer Organisationen gegen die US-Kriege im Nahen Osten und unsere Annäherung an eine Welt, in der man sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Tatsächlich ist „Testamento di un buffone“ das erste autobiografische Lied von TALCO.

„Mazel Tov“ (2008, Destiny)
2008 war ein Wendepunkt für die Band. Statt uns aufzulösen, wurde es zum Jahr des Neuanfangs von TALCO. „Mazel Tov“ ist bis heute das von den Fans und uns selbst am meisten geschätzte Album, mit dem wir uns auch nach 15 Jahren noch musikalisch wie inhaltlich voll und ganz identifizieren können. Der Punkchanka-Sound ging jetzt mehr in Richtung Balkan- und Klezmer-Rhythmen, was sich auch auf der dazugehörigen Tour zeigte. Diese Verbindung aus Punk und Folk, die sich auf dem Vorgänger bereits vorsichtig andeutete, sollte von nun an unseren Stil definieren. Wir hatten neue Hoffnung geschöpft und so knüpft das Konzept thematisch dort an, wo die Geschichte bei „Combat Circus“ unterbrochen wurde. Sie beginnt mit dem Intro von „L’era del contrario“ in einer Welt, in der die Moral auf dem Kopf steht. Und genau das ist das Leitmotiv des Albums, das von der Mafia handelt und vom Holocaust, inspiriert durch den Film „Zug des Lebens“, aber auch von der Korruption im italienischen Parlament. Es sind Lieder, die immer noch zu den beliebtesten und bekanntesten von TALCO gehören, wie unsere Hommage an die Resistance, „Tarantella dell’ultimo bandito“, oder „La mano de Dios“, die Adaption eines Liedes von El Potro Rodrigo, oder „St. Pauli“, das den großartigsten deutschen Fußballfans gewidmet ist, und natürlich „La torre“, das zu einer Art Erkennungszeichen der Band wurde – eine Hymne auf das kompromisslose Leben als Musiker.

„La Cretina Commedia“ (2010, Destiny)
Nach diesem Balkan-Klezmer-Punk-Rausch richteten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf eine weitere Leidenschaft: die italienischen Liedermacher der Siebziger Jahre. Und es gab eine neue Herausforderung: Aufgrund des Labelwechsels von Kob zu Destiny war es das erste Album, bei dem wir eine Deadline einhalten mussten. Die Songs sind viel punkiger und wirken deutlich homogener als bisher, gerade weil sie in einem begrenzten Zeitrahmen entstanden sind. Das Ergebnis ist „La Cretina Commedia“, ein Konzeptalbum über das Leben von Peppino Impastato, einem sizilianischen Politiker, der gegen die Mafia kämpfte und als Held für seine Überzeugungen starb. Es war eine erste Annäherung an eine wahre Geschichte. Das Konzept geht nicht mehr von einer gesellschaftlichen Problematik aus, sondern erzählt die Geschichte und die Kämpfe einer realen Person. Dieser Schritt war wichtig für uns, damit wurde ein neuer Weg eingeschlagen, den wir bis heute nicht verlassen haben. Auf dem Album sind einige Lieder enthalten, die bei keinem Konzert fehlen dürfen, wie zum Beispiel „Punta Raisi“, „La parabola dei Battagghi“ und die Ballade „Perduto maggio“, unsere unverkennbare Verbeugung vor italienischer Folkmusik.

„Gran Galà“ (2012, Destiny)
Nach der anstrengenden Zeit im Studio und auf Tour mit „La Cretina Commedia“ schien erst mal eine Ruhephase anzustehen, aber plötzlich kamen neue Ideen auf, die wir für wichtig hielten und die für neue Begeisterung und Enthusiasmus sorgten. In Italien war nach dem Rubygate-Skandal das System Berlusconi kollabiert, also war vielleicht jetzt der richtige Zeitpunkt, ein Konzeptalbum über Populismus zu schreiben, ohne dabei wieder in die gleiche Rhetorik wie früher zu verfallen. Damals empfanden wir ungeheuren Druck, erneut das „Mazel Tov“-Niveau erreichen zu müssen, und „La Cretina Commedia“ mit seinen Deadlines hatte diese Sorgen noch verstärkt. Ohne es zu merken, überwanden wir mit „Gran Galà“ genau diesen Moment: ein „produktiveres“ Konzept. Auch aufgrund des ersten Wechsels des Aufnahmestudios überhaupt, sehr abwechslungsreiche Rhythmen und mit so wichtigen Liedern wie „La mia città“, „San Maritan“, „Ancora“ aber vor allem „Danza dell’autunno rosa“, unser vielleicht beliebtester Song. Dabei hatten wir hier etwas Glück, denn ursprünglich war es als Instrumental gedacht, und erst als wir es mal im Proberaum gespielt haben, wurde ein Arrangement mit Gesang daraus. Niemand hatte vorher das Potenzial dieses Stücks erkannt, das inzwischen wohl unser bekanntestes ist. Diese Platte bedeutete für uns einen wirklichen Qualitätssprung.

„Silent Town“ (2015, Destiny)
Nach der Jubiläumstournee anlässlich des zehnjährigen Bandbestehens und dem Wechsel des Managements standen wir vor einem neuen Kapitel in unserer Geschichte. „Silent Town“ sollte eine Trilogie von Konzeptalben über Italien abschließen, die mit „La Cretina Commedia“ und „Gran Galà“ begonnen hatte. Unser Anspruch war viel ehrgeiziger geworden. In diesem Fall ging es nicht nur darum, einen musikalischen Nachfolger für das vorherige Album zu schaffen, sondern auch eine eigene Geschichte zu erzählen. Im Stil des lateinamerikanischen magischen Realismus verfassten wir eine Geschichte, in der es um eine Bande von Schiffbrüchigen geht, die von einer alten Frau – Italien – angeführt wird, die, als sie in Silent Town ankommt, durch allmähliche Erinnerungsschübe ihr Gedächtnis wiedererlangt und ihre Liebe wiedertrifft, die einzige wirkliche Bewohnerin von Silent Town, eine Metapher für den Partisanenwiderstand. Innerhalb dieses Rahmens werden auch aktuelle Themen angesprochen, wie den neuen Populismus oder die kleinliche Rhetorik, mit der sich karrieregeile Pseudo-Künstler vermarkten. Gipfelnd in einem Höhepunkt, der mit „Il tempo“ beginnt, bis hin zur Single „Dalla pallida Mirò“, in der es um die Ermordung von Federico Aldrovandi durch eine Prügelorgie der italienischen Polizei geht. Es ist ein Album, das zwischen äußerst kraftvollen Momenten wie dem erwähnten „Il tempo“ und Ska- und Midtempo-Passagen wie „Malandia“ wechselt. „Silent Town“ war für uns ein weiterer qualitativen Schritt nach vorn, der uns dazu ermutigte, uns von etablierten Inhalten zu lösen und eigene Geschichten zu erzählen.

„And The Winner Isn’t“ (2017, Long Beach Europe)
Während unser „Punkchanka“ sich immer weiter von den leichten Rhythmen entfernte und mehr vom kalifornischen Punkrock beeinflusst wurde, lief die Welt des Internets über vor Negativität und überzogener Selbstinszenierung. Die Hoffnung auf eine gewisse Freiheit, die einst mit dem Aufkommen des Internets verbunden war, wurde durch den ungesunden Gebrauch, den die Menschen davon machten, zunichte gemacht. Ein gewisser Pessimismus gegenüber dem menschlichen Wesen, ein neues Gefühl für TALCO als Band, kombiniert mit dem Bedürfnis, inhaltlich nicht zu stagnieren und uns nicht zu wiederholen, brachte die Band dazu, sich mit einem neuen Konzept auseinanderzusetzen, das mehr sozial als politisch ist, bezogen auf das Selbstdarstellertum im Multimedia-Zeitalter, in dem jeder etwas leisten will, angefacht durch den Wunsch nach Wettbewerb, der die Niederlage des Gegners voraussieht. Daher „And The Winner Isn’t“. Es ist auch unser erstes Album, das in den USA im Blasting Room-Studio gemischt und gemastert wurde, was ihm diesen „kalifornischen“ und energiegeladenen Touch verleiht, den es brauchte. Die Reflexion über den Wettbewerb findet sich in vielen Songs, von der Reality-Show in „Lungo la macabra stanza“, inspiriert durch die Fernsehserie „Black Mirror“ und die Philosophie Foucaults, über die führende Rolle in der Welt der Informationen und Fake News bei der Single „La verità“, oder die Ausbeutung illustrer Persönlichkeiten in der Geschichte des Sports durch skrupellose Männer, wie in „Bomaye“, einer Hommage an den legendären Boxer Muhammad Ali, bis hin zu einer Kritik an Hass und Rhetorik in „Avatar“ und „Matematica idea“. Das Album schließt mit „Silent avenue“, in dem wir uns angewidert von diesem sinnlosen Getöse abwenden.

MASKERADE „Locktown“ (2021, HFMN)
Nach einem fast siebenjährigen Tourmarathon ohne eine Pause mischte die Pandemie plötzlich die Karten neu. Ein Gefühl der Stille und die Unmöglichkeit, live aufzutreten, brachte uns dazu, nicht untätig zu bleiben und uns endlich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen: ein Akustikalbum. Die Notwendigkeiten der Situation bedingten eine totale DIY-Arbeitsweise, so haben wir alte Songs mit einer frischen akustischen Fassung versehen und mit bislang unveröffentlichten Liedern kombiniert. Es wurde ein Album, das sich sehr vom Üblichen unterscheidet und bei dem nur die Folk- und Songwriter-Seele der Band zählt. Die Zeit und die individuelle Unfähigkeit, mit ihr umzugehen, sind wiederkehrende Motive auf diesem Album, bei dem die Pandemie in Titeln wie „Locktown“ und „Fine di una storia“ mal als persönliche Rettungserfahrung, mal gesellschaftskritisch beschrieben wird. Und auf dem der „autobiografische“ Freak auftritt, der sich mit einer Figur beschäftigt, die zur Zeit von „Silent Town“ erdacht wurde, hier im metaphorischen Gewand des Künstlers, der seine Träume auslebt. „Locktown“ erlaubte es TALCO zudem, in diesen für Musikschaffende schwierigen Zeiten unter dem Pseudonym MASKERADE aufzutreten, und erhielt sogar von der Presse hervorragende Kritiken, die von diesen akustischen Klängen positiv überrascht waren.

„Insert Coin“ (2022, HFMN/Punkchanka/Long Beach Europe)
Hier haben TALCO den Elektro-Sound wiederentdeckt, immer noch im DIY-Stil, und zwar sowohl in Bezug auf die Musik- als auch die Videoproduktion, um ein neues Kapitel in unserer Geschichte aufzuschlagen. Engagiert, aber auch viel introspektiver und beeinflusst von verschiedenen Quellen, ob orientalische Philosophie oder italienische Liedermacher, wie in diesem Fall Franco Battiato. Das Ergebnis ist so was wie die Vorgeschichte einer Story, die noch zu erzählten ist, in der der Freak zum ersten Mal seine Komfortzone verlässt, um sich selbst und die Gesellschaft, die ihn umgibt, zu analysieren, was ihn von den Fesseln einer Welt befreit, in der er sich mental wie ein Gefangener fühlte. Angefangen beim aggressiven „Radio countdown“, um dann in „La libertà“ eine Kultur zu beschreiben, in der alles auf ein selbstdarstellerisches Meme oder auf Reflexionen im Telegrammstil in den sozialen Netzwerken reduziert ist, nur um sich selbst zur Schau zu stellen, bis hin zu „Papel“, das sich schonungslos mit der oberflächlichen Welt eines auf Slogans und Selbstvermarktung reduzierten Antagonismus auseinandersetzt. Auch die Identitätskrise der Musikszene, die in „Lo spettacolo“ thematisiert wird, beruht auf diesem Teufelskreis.

„Videogame“ (2022, HFMN)
Nach zwei Jahren Pandemie erblickt „Videogame“ endlich das Licht der Welt, ein Album, das mit dem kalifornischen Punkrock verbunden ist. Es wurde im Februar 2020 aufgenommen im Estudi Labedoble in Katalonien und erneut im legendären Blasting Room gemischt. Es ist eine bahnbrechende Platte für die Band, sehr aggressiv und schnell, die den Weg für alles vorgab, was später produziert wurde. Ein Album, das sich auf die Selbstbeobachtung konzentriert, auf ein gemeinsames Thema wie die Angst, unter der unser Sänger Dema leidet, der die Songs für TALCO schreibt, jedoch ohne sich nur auf sich selbst zu beziehen, sondern um auch die Probleme der Gesellschaft zu reflektieren. Er stellt sich seinen persönlichen Gefühlen und Fluchttendenzen, um zum Beispiel parallel von einer erstarrten Linken zu sprechen, die nur noch zu aus der Zeit gefallenen Parolen fähig ist, wie in „Descarrila“, der einen das Unbehagen angesichts starrer Ideale für immer vergessen lässt. Aber diese Angst führt auch zu Hass und Egoismus, darum geht es etwa in „Muro di plastica“ und „Game over“, in einer Realität, in der es immer mehr Raum für medialen Opportunismus gibt, erkennbar an der ewigen Marketingrhetorik, und zwar von rechts wie von links. Davon handeln „La venuta di banalità“ und „Giga popular“. Die Liebe zur Musik hat bei uns jedoch nie nachgelassen, wie „Garage jukebox“ beweist. Das Album wird immer ein Favorit der Band bleiben, denn es zeigt, wer wir sind.