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Aus Liebe zur Musik

Wenn es eine junge Band schafft, sich innerhalb von sieben Jahren vom anfänglichen Pop-Punk zu entfernen und auf ihrem dritten Album „Glue“ Alternative, Rock und auch ein wenig Punk zu vereinen, zeugt das auf jeden Fall von Unruhe. Dass sich dazu in diesen Tagen auch eine gehörige Portion Wut mischt, war Anlass für die Engländer um Henry Cox, eine Platte zu veröffentlichen, die nicht allen gefallen soll. Warum es gar nicht so einfach war, einen Nachfolger zu „Welcome To The Neighbourhood“ zu schreiben, erzählt der Sänger im Interview.

Ich würde das Interview gerne mit einem Zitat von dir beginnen. Im Presseinfo sagst du, dass du hoffst, „Glue“ würde die Menschen wütend machen und sie dazu bewegen, dass sie ihr Handeln neu überdenken. Kannst du das genauer erklären?

Mir scheint, als gäbe es zur Zeit eine recht seltsame Kultur, die sich vermehrt mit der Selbstwahrnehmung beschäftigt. Jeder teilt oder postet irgendwas, um seine Mitmenschen mit der Nase darauf zu stoßen, wie „bewusst“ er oder sie doch handle und für welche nachhaltigen Projekte man sich einsetze. Am Ende sind das bei vielen einfach nur Versuche, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und den anderen zu verkaufen, dass man ja ein ach so guter Mensch sei. Dabei gibt es eine kognitive Dissonanz zwischen dem Handeln dieser Personen und ihren Gewohnheiten oder von mir aus auch ihrem Leben außerhalb des Internets. Ich will mich da gar nicht ausschließen. Das Problem ist ja auch, dass wir uns oft in einer Blase bewegen, in der du sowieso meist nur ein positives oder eben auch gar kein Feedback bekommst. Mir ist es wichtig, dass die Leute aus dieser Echokammer ausbrechen und sich bewusst werden, dass sie einen Platz auf der Erde haben. Wir müssen echte Verantwortung für uns, unsere Mitmenschen, aber vor allem auch für unseren Planeten übernehmen.

Brexit, Trump, der Klimawandel und nun eine weltweite Pandemie: Was, denkst du, muss passieren, damit die Menschen endlich aufwachen und beginnen, etwas zu verändern?
Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau. Ich bin der Meinung, dass die gesellschaftliche Spaltung im Moment eines der größten Probleme ist. Jeder sucht sich bei jedem erdenklichen Problem eine Seite aus und lehnt dann alle Andersdenkenden ab. Mit kommt es so vor, als würde sich die Welt mit so vielen überflüssigen Problemen oder vor allem Diskussionen aufhalten und das, ohne überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu wollen. Dabei wäre es hilfreicher, wenn sich viele Menschen in die Lage der anderen versetzen würden und dann erst ihre Entscheidung träfen. Das Problem mit Trump ist ja deshalb entstanden, weil es in Amerika zwei Lager gibt, die eher aufeinander einschlagen würden, als dass sie inhaltlich aufeinander zugehen. Da werden nur Parolen geschrien, in denen es darum geht, das zu vernichten, was die andere Partei entwickelt. Und dann ist da noch die Hälfte der Trump-Wähler, die immer noch nicht realisiert haben, wofür sie da stimmten. Die wollten einfach nur einen Wechsel. Aber anstatt, dass eine sachliche Diskussion stattgefunden hat, wurden Leute beleidigt und abgestempelt. Daraus hat sich dann auch eine Sturheit entwickelt, die ausgerechnet diese Menschen jetzt an ihren Entscheidungen festhalten lässt: Die anderen halten uns für blöd und wir sind gegen alles, was die von sich geben. Dass es Linken irgendwie leichter fällt, Menschen zu verurteilen als den Rechten, ist nicht das, was ich mir darunter vorstelle, „links“ zu sein. Dieses ganze Stammesdenken ist irgendwann unser Untergang.

„Glue“ ist eine sehr vielseitige Platte geworden, auf der von Punkrock über Indie bis zu Electro alles zu finden ist. Das klingt nach einer enormen Entwicklung, die ihr als Songwriter durchgemacht habt.
Anders als bei den vorigen Platten war es wirklich schwer, dieses Album zu schreiben. Wir waren vom Touren ausgebrannt und auch sonst in keiner so besonders guten psychischen Verfassung. Als es darum ging, an einem neuen Album zu arbeiten, hat es uns recht schnell an unsere Grenzen gebracht, weil wir der Meinung waren, dass wir keine besseren Songs als auf unserer letzten Platte „Welcome To The Neighbourhood“ mehr hinbekommen könnten. Das hat sich nach einer Zeit jedoch als totaler Holzweg herausgestellt. Wir sind einfach zu verkopft an die Sache herangegangen und haben uns darüber Gedanken gemacht, was wir für Songs schreiben sollen, statt uns mit den Stücken selbst zu beschäftigen. Sobald wir diese selbstauferlegte Last abgeschüttelt hatten, ging es fast wie von selbst. Bis dahin war es aber eine herausfordernde Phase für uns als Band.

Wie hat es sich für euch angefühlt, neue Soundideen auszuprobieren?
Ich würde sagen, es war eine Mischung aus Trial and Error und einfach loslegen. Viele Tracks, von denen wir gedacht haben, dass sie eigentlich schon fertig seien, wurden im Studio noch mal komplett umgeschrieben. Es wirkte so, als wäre das Album in den Barber Shop Studios in New Jersey ein zweites Mal auf die Welt gekommen. Wir wussten, dass wir unser Songwriting noch weiter pushen und vor allem viel mehr experimentieren wollten. Einen großen Anteil daran, dass wir uns dieses Mal noch mehr zugetraut haben, hatte sicher auch unser Produzent Mike Sapone.

Oftmals vermittelt das Albumcover einen ersten Eindruck von einer Platte. Kannst du mir mehr über das Artwork von „Glue“ erzählen?
Benjamin Lieber, ein super talentierter Fotograf aus New York, ist für das Design verantwortlich. Ich hatte ihm das Album geschickt und ihn in die Themen, die wir auf der Platte ansprechen, eingeweiht, um einen ungefähren Rahmen zu stecken. Ansonsten habe ich ihm gesagt, dass er sich einfach austoben soll. Da wir beide große Fans von Storm Thorgerson sind, wusste ich, dass ich mit dem Ergebnis auf jeden Fall zufrieden sein würde. Inspiriert ist das Coverfoto von PINK FLOYD und MUSE.

Lass uns über das Leben als Musiker im Jahr 2020 sprechen. Kannst du der momentanen Entwicklung irgendetwas Positives abgewinnen?
Ja, aber auch ganz klar nein! Dazu müsste ich ein bisschen weiter ausholen. Streaming hat in den letzten Jahren einen wirklich großen Schaden angerichtet. Es ist sowieso schon sehr schwierig, mit Rockmusik genug Geld zu verdienen. Aber die aktuelle Situation ist der absolute Albtraum. Es scheint so, als teilen sich Künstler immer mehr in zwei Lager auf. Auf der einen Seite hast du diejenigen, die jedem Trend hinterherlaufen und sich nach den Wünschen der breiten Masse richten. Dadurch kann man vor allem im Bereich Streaming sehr erfolgreich sein. Das führt zu einer Menge an unterirdischen Veröffentlichungen, die wenig gehaltvoll sind. Auf der anderen Seite hast du eine ständig kleiner werdende Gruppe von Musikern, die ihr Ding aus Liebe zur Musik durchziehen. Was ja auch, um ehrlich zu sein, der einzige Grund sein sollte, es überhaupt zu tun. Diese Leute haben es im Moment einfach unglaublich schwer. Natürlich hilft vor allem das Streamen von Musik dabei, dass junge Künstlerinnen und Künstler viel schneller ihr Zeug unter die Leute bringen können. Unabhängig davon vermisse ich im Moment meine Freunde ungemein. Und vom Musikmachen brauchen wir gar nicht zu reden. Es tut schon so weh, dass ich es gar nicht erwarten kann, wieder auf Tour zu gehen. Insgeheim hoffe ich, dass wir zu dem Leben zurückkehren können, dass wir vor dem Beginn der Pandemie hatten.

Kannst du mir etwas über die Inspirationen sagen, die euch dazu beflügelt haben, soundtechnisch so viel auszuprobieren?
Ich habe viel DEFTONES und NINE INCH NAILS gehört, was erst mal nicht unüblich für mich ist, vor allem wenn wir gerade neue Songs schreiben. Dazu kamen dann noch etwas ausgefallenere Sachen wie eine Menge UK-Elektro, BURIAL, APHEX TWIN oder AUTECHRE. Auch die RADIOHEAD-Alben „Hail To The Thief“ und „Amnesiac“ liefen bei mir 2019 rauf und runter.

Würdest du sagen, dass „Glue“ zwar auf den ersten Blick nicht nach Punkrock klingt, am Ende aber wegen der angepissten Message euer punkigstes Album geworden ist?
Darüber habe ich tatsächlich vor kurzem erst nachgedacht. In vielerlei Hinsicht ist es ein waschechtes Punk-Album. Es lehnt viele Normen ab, ist aggressiv und schnell. Da wir aber in einer Welt leben, in der alles „Post-irgendwas“ ist, könnte ja eigentlich alles im Moment Punk oder sonst etwas sein. Am Ende ist das aber total egal.