NEW MODEL ARMY

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Post-Punk-Romantik

2010 darf die britische Post-Punk-Institution NEW MODEL ARMY aus dem nordenglischen Bradford ihr dreißigjähriges Bandjubiläum feiern und gehört damit zu den wenigen Formationen dieser Ära, die es eigentlich ohne großartige Unterbrechungen gegeben hat, und die sich nicht erst wieder reformieren musste, um noch mal ein paar finanziell einträgliche Gigs zu spielen. Dabei störte komischerweise auch nie die Tatsache, dass Sänger und Gitarrist Justin Sullivan schon länger das einzig verbliebene Urmitglied ist. Denn das andere Gründungsmitglied, Schlagzeuger Robert Heaton, der bereits 1998 die Band verließ, verstarb 2004, und auch der seit Anfang der Neunziger aktive Gitarrist Dave Blomberg stieg 2005 aus. Trotz einer sich ständig verändernden Besetzung präsentierten sich NMA gerade in den letzten Jahren als Ausbund an Konstanz, genauer gesagt, seit dem Erscheinen des 1998er Albums „Strange Brotherhood“ auf dem eigenen Label Attack Attack, nach dem Ende ihrer Zusammenarbeit mit EMI und einer Platte auf Epic. Nicht nur bezüglich der ständigen Live-Präsenz der Band, sondern auch aufgrund durchweg guter Platten, die seit „Carnival“ von 2005 inzwischen in schöner Regelmäßigkeit im Zwei-Jahres-Rhythmus erscheinen. Und so steht seit Mitte September das aktuelle Album mit dem überraschend positiv anmutenden Titel „Today Is A Good Day“ in den Läden, was diesmal allerdings nicht so selbstverständlich war. Denn Weihnachten letzten Jahres verstarb überraschend Tommy Tee, langjähriger Manager und Freund der Band, der quasi im Alleingang die Bandgeschäfte am Laufen hielt. Ein herber Verlust, nicht nur in geschäftlicher Hinsicht. Umso erfreulicher ist es, dass „Today Is A Good Day“ mit zu den besten Alben zählen dürfte, die NMA in ihrer langen Karriere aufgenommen haben. Im August weilte Sullivan zusammen mit NMA-Keyboarder Dean White im Essener Grend, wo die beiden neben einem speziellen Soloprogramm natürlich auch NMA-Songs zum Besten gaben. Vor dem Konzert ergab sich auch noch die Gelegenheit, ein wenig mit Sullivan zu plaudern.

Justin, es ist etwas ungewohnt, dich ohne NMA auf einer Bühne zu sehen. Wie empfindest du selbst solche Solo-Shows?

Also, ich bin ja nicht allein, Dean ist dabei. Aber ich war auch schon allein unterwegs und mir gefällt das, denn es ist für mich eine „beweglichere“ Version von NMA. Mit fünf Leuten auf der Bühne ist es schwierig, spontan etwas zu verändern, da man permanent untereinander kommunizieren muss.

Wenn man sich eure bisherige Bandgeschichte anschaut, war Deutschland ja immer ein guter Ort für euch, und so sind eure Konzerte hier nach wie vor gut besucht.

Ja, angefangen mit dem Star Club in Hamburg 1984, als wir vor zwölf Leuten gespielt haben, haha.

Jeder fängt mal klein an, die BEATLES sind da schließlich auch bekannt geworden ...

Das ist wahr ... Ich frage mich auch immer, warum das in Deutschland so ist. Und dafür gibt es drei Gründe: Einer ist sicher, weil wir keine Medien-Band sind. Und das ist in Ländern wie England und Frankreich ein großes Problem. Die Medien sind dort so zentralisiert, dass sie bestimmen können, was das ganze Land hören und mögen soll. Und in Deutschland, vor allem früher, als das Land noch geteilt war, gab es diese zentralisierten Medien noch nicht. Die Deutschen lassen sich viel weniger durch die Medien diktieren. Und wenn das doch der Fall ist, geschieht das mehr auf einer lokalen Ebene. Man kann sehr bekannt in Hamburg sein und völlig unbekannt in München – das funktioniert nicht unbedingt auf einer nationalen Ebene. Der zweite Grund ist, dass die Deutschen gerne auf Konzerte gehen. Es gibt hier eine fantastische Club-Landschaft. Und wenn man eine gute Live-Band ist, kann man dadurch einen großen Bekanntheitsgrad erreichen. Und wir sind eine gute Live-Band. Und der dritte Punkt ist ... Tut mir leid, falls ich jetzt auf irgendwelche länderspezifischen Stereotype zurückgreifen muss.

Ach, davon haben wir ja genug, haha!

Nun, die Deutschen sind sehr heidnische Menschen. Es gibt Anzeichen einer christlich geprägten Zivilisation, aber die ist nicht sonderlich ausgeprägt. Bedeutsamer für mich ist aber, und das mag ich wirklich an Deutschland, dass hier ein Sinn für Gemeindestrukturen erhalten geblieben ist, den es in England nicht mehr gibt. Denn Thatcher hat leider die Gemeinden in England Ende der 80er Jahre vollkommen entmachtet und war sogar noch stolz darauf. Was ich eigentlich damit sagen will, ist, dass ihr Deutschen unheimlich widersprüchlich seid. Ihr seid ungemein erfinderisch und baut zum Beispiel die besten Autos. Ihr habt eine sehr eindeutige Sprache, die wie gemacht ist für Mathematik und Philosophie. Ihr habt die Fähigkeit, sehr kreativ und akkurat zu sein. Und ihr seid sehr direkt, etwa was Beziehungen oder Meinungsaustausch angeht. Gleichzeitig seid ihr hoffnungslos romantisch. In eurer Seele findet sich dieser Widerspruch, dass alles sehr unmittelbar und unverblümt sein muss, gleichzeitig habt ihr einen großen Sinn für Romantik Und ich glaube, dass sich dieser Widerspruch auch in der Musik von NMA finden lässt. Auf der einen Seite ist sie sehr direkt, sehr aggressiv und sehr deutlich, was die Texte betrifft. Zur selben Zeit ist sie hoffnungslos romantisch. Und das wird wohl der Hauptgrund für unser besonderes Verhältnis zu Deutschland sein.

Du hast die Band 1980 gegründet, NMA existieren jetzt also fast dreißig Jahre. Du hattest eben schon Thatcher erwähnt, und in gewisser Weise seid ihr eine Band aus ein ganz anderen Zeit, die aber immer noch existiert. Viele Bands, denen ich begegne, haben eine Lebenserwartung von drei oder höchstens zehn Jahren. Aber eine Band, die so lange unterwegs ist, hat bestimmte gesellschaftliche Veränderungen mitbekommen. Denkst du, so eine Band hat einen völlig anderen Einfluss beziehungsweise gibt euch das eine ganz andere Wichtigkeit, auch in Bezug auf die inhaltliche Dimension der Texte?

Nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, auch wenn ich die Achtziger eben erwähnt habe, habe ich vieles aus dieser Zeit wieder vergessen. Mrs Thatcher habe ich natürlich nicht vergessen und auch nicht die Berliner Mauer. Aber es gibt viele Songs aus den Achtzigern, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich meine, wir spielen sie zwar noch, aber ich weiß nicht mehr, warum ich sie geschrieben habe. Was vergangen ist, interessiert mich auch nicht besonders. Ich finde, wir sind als Band auch recht gut in der Jetztzeit aufgehoben. Zum Teil liegt das an meinem schlechten Gedächtnis und daran, dass sich die Band über die Jahre sehr verändert hat. Und die momentane Band ist die bis dato beste Version von NMA, zumindest die beste seit 1985, mit den besten Musikern. Und zwar, weil das Verhältnis untereinander sehr ausgeglichen ist und wir uns gegenseitig vertrauen. Und wenn man einander vertraut, erlaubt man sich gegenseitig auch mehr Freiräume. Ich weiß nicht genau, wo uns das hinführen wird, aber ich gehe diesen Weg gerne mit, denn ansonsten stagniert die Kreativität. Es ist jetzt zwanzig Jahre her, seit „Thunder And Consolation“ erschien. Und die Leute fragen uns, warum wir keine Tour machen, auf der wir wie andere Bands nur diese Platte aufführen, da könnten wir doch überall vor ausverkauften Häusern spielen. Dagegen sprechen zwei Gründe: Einmal, weil ich das einfach nicht will. Zum anderen, weil niemand aus der aktuellen Besetzung zu dieser Zeit dabei war. Es war eine andere Zeit und die ist vorbei. Wir feiern ja nächstes Jahr unsere dreißigjähriges Bestehen, und da werden wir uns einen kurzen Moment erlauben, um zurückzublicken.

Aber seid ihr nicht ständig dazu gezwungen zurückzublicken, wenn das Publikum die alten Songs hören will?[/b]

Nein, und das ist das Wundervolle an NMA, denn selbst wenn die Fans insgeheim die alten Songs hören wollen, wagen sie es nicht, es mir zu sagen. Niemand brüllt, dass er „Vagabonds“ hören will – vielleicht gelegentlich –, aber wir spielen den Song oder eben auch nicht. Man könnte meinen, wir hätten ein Publikum, das zum größten Teil von Anfang an dabei war, was bedeuten würde, dass wir die alten Songs für einen immer kleiner werdenden Kreis loyaler Fans spielen würden. Aber das ist nicht wahr, wir spielen neue Songs für ein sich ständig veränderndes Publikum. Manchmal sind noch Fans mit T-Shirts da, die sie 1987 gekauft haben, aber nicht mehr oft, die sind einfach verschwunden, die kommen nicht mehr zu unseren Konzerten. Stattdessen ist da eine ganz neue Generation. Bei mir im Haus wohnt zum Beispiel ein 25-jähriger Junge, der Neil Young und Tom Waits liebt. Und ich glaube, eine jüngere Generation kümmert es immer weniger, wann bestimmte Musik entstanden ist, da man auf alles Zugriff hat. Hey, ich hab da diese neue Band entdeckt, LED ZEPPELIN! Oder noch viel schlimmer, diese Achtziger-Jahre-Nostalgie, die schrecklichste Zeit für Musik, aber da gibt es eine neue Generation, die sich nicht mehr daran erinnert und der das gefällt.

Was denkst du, was euch als Band gleichbleibend interessant hält?

Also erst mal ist ja ein Grund, in einer Band zu spielen, weil man damit Geld verdienen will. Du willst Erfolg haben. Und wenn man den hat, will man natürlich sein Publikum behalten. Und das Publikum wiederum will die Hits hören, also spielt man die Hits, um das Publikum glücklich zu machen. Man jagt also ständig dem eigenen Erfolg hinterher. Als es mit NMA losging, war ich schrecklich idealistisch und wütend. Erfolg stand auf meiner Prioritätenliste ganz unten. Natürlich war man ambitioniert, natürlich wollte man Erfolg haben und Geld verdienen, aber das stand nicht an erster Stelle. An erster Stelle stand, dass wir diese gottverdammte Welt verändern wollten. Wir dachten das zumindest, da wir noch recht naiv waren. Und natürlich änderten wir die Welt nicht, aber das war der Grund, um in einer Band zu spielen. Wahrscheinlich stand an erster Stelle einfach, dass man Spaß haben wollte. Als ich das erste Mal Stuart, den ersten Bassisten von NMA, traf und wir zusammen Musik machten, dachte ich: Das ist ja brillant, ich liebe es! Es ging nur darum, zusammen Musik zu machen, und so ist es bis heute geblieben. Natürlich funktioniert das nicht immer, aber das ist eben in der Regel das Ziel.

Aber wo kommt nach all den Jahren bei dir noch die Motivation her, Songs zu schreiben und dich auf eine Bühne zu stellen?

Weil Musik machen und auch hören für mich immer noch etwas Besonderes ist. Zu Hause höre ich mir eigentlich kaum Musik an, ich habe nie Musik im Hintergrund laufen, ich hasse das. Wenn ich Musik höre, will ich allein sein, das ist ein besonderer Moment für mich.

Letztes Weihnachten verstarb überraschend euer Manager Tommy, inwiefern hat sich dadurch dein Verhältnis zur Musik verändert? Ich schätze, du musst dich jetzt auch mehr um geschäftliche Dinge kümmern, oder?

Wir haben uns momentan dazu entschieden, die Band selbst zu managen, auch wenn wir in geschäftlichen Dingen recht unerfahren sind. Es gab zwar viele Leute, die das machen wollten, aber da war niemand dabei, dem wir vollständig getraut hätten. Und das Resultat davon ist, dass ich den ganzen Tag damit verbringe, eMails zu schreiben und zu beantworten.

Und das ist schrecklich für dich ...

Schrecklich ist vielleicht das falsche Wort, es ist sehr zeitaufwändig. Aber ich habe in gewisser Weise Glück, dass ich diese andere Seite der Musik auch mag. Nur alleine Musiker zu sein, kann recht schwierig sein, wenn man ständig beschäftigt sein will. Denn bevor ich auch noch der verdammte Manager der Band wurde, gab es es oft Tage, wo es nichts zu tun gab, vor allem auf Tour. Man sitzt auf Flughäfen herum, in Autos oder Hotelzimmern. Manche Leute hassen das, was ich gut verstehen kann, denn es ist fürchterlich langweilig. Aber ich langweile mich eigentlich nie, ich kenne das Gefühl nicht mehr, seit ich 14 war, weil mir so viel im Kopf herumgeht. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist, einfach aus dem Fenster zu schauen und so vor mich hin zu träumen.

Gibt es noch etwas anderes, was du neben der Musik machst? Also außer aus dem Fenster zu schauen ...

Was mich neben der Musik am meisten begeistert, vielleicht sogar noch mehr als die Musik, ist die Verbindung von Licht und Wasser in der Natur. Auf dem Meer oder am wolkenverhangenen Himmel verändert sich Verbindung von Licht und Wasser ständig. Ähnlich wie die Deutschen bin auch ich anscheinend sehr heidnisch veranlagt. Ich entledige mich bei der erstbesten Möglichkeit sofort meiner Kleidung, so wie es die Deutschen tun, das ist nicht sonderlich britisch. Vielleicht liegt es daran, dass ich in den ersten Jahren meines Lebens zusammen mit einem deutschen Au-pair-Mädchen aus Stuttgart aufgewachsen bin.

Wenn du so an solchen Naturphänomenen interessiert bist, fotografierst du sie dann auch?

Das sollte man annehmen, aber nein ... Nimm zum Beispiel mal „Navigating By The Stars“, mein 2003 entstandenes Soloalbum, das sich sehr von NMA unterscheidet, mit Songs, in denen es um das Meer geht. Jeder dachte, ich hätte das Album geschrieben, als ich tatsächlich mit einem Schiff übers Meer gefahren bin, weil das das Thema ist. Aber das stimmt nicht, ich schrieb das Album, weil ich mir damals wünschte, auf See zu sein. Tatsächlich war ich in meinem Haus in Bradford. Denn es sind die Wünsche und Sehnsüchte, derentwegen interessante Musik entsteht. Deshalb gibt es auch so viele Liebeslieder. Gute Musik entsteht, wenn man sich nach etwas sehnt, und nicht, wenn man mit seiner Situation zufrieden ist. Das bringt uns wieder zur Romantik von vorhin zurück.

Um noch mal abschließend auf das aktuelle Album „Today Is A Good Day“ zu sprechen zu kommen: Ich bin überrascht, wie frisch und aggressiv es klingt.

Ja, dafür gibt es einige Gründe. Eigentlich hat Chris Kimsey das Album produziert, aber wir mochten das Endergebnis nicht und mischten das Album noch mal neu ab. Er war zu dieser Zeit in Amerika und als er zurückkam, meinte er: Jetzt zeigt mir mal, was ihr mit meinem Album gemacht habt. Aber er ist ein sehr selbstloser Mensch und fand dann, dass es ein wirklich fantastisches Album wäre und wunderbar altmodisch klingen würde. Und ich wusste, was er damit meinte. Der Grund dafür ist, dass wir bis auf den letzten Song, den wir erst im Januar für Tommy geschrieben haben, alles in unserem eigenen Studio aufgenommen haben, auf recht primitive Weise, und Chris Kimsey ließen wir nach Bradford kommen. Es gab bei den Aufnahmen auch keine „Click Tracks“, denn die machen alles kaputt. Wir haben viele Platten gemacht, wo jeder nur seinen Part einspielt, und manchmal war das auch wirklich gut, aber das beste Ergebnis bekommt man, wenn die gesamte Band zusammen spielt. Viele Leute sagen uns immer, wir wären so eine tolle Live-Band, aber unsere Platten würden irgendwie steril klingen, und das stimmt auch. Und dieses Mal handelt es sich um eine Platte, auf der du die Leute wirklich zusammen spielen hörst.