DIE STIMME DER VERNUNFT

Foto

Privilegiert

Eine Frage, die sich immer wieder stellt: Was mache ich hier eigentlich? Angesichts der Lage an sich, im Speziellen und Allgemeinen, eine durchaus berechtigte Frage. Gäbe es nichts Wichtigeres, als über Bands, Musik, Platten und persönliche Dinge zu schreiben? Wenn ich mir die Probleme meiner Mitmenschen anhöre, Dinge, die sie umtreiben und plagen, mich mitunter zu Sympathiebekundungen für zweifelhafte Großmäuler bewegen, stellt sich eine weitere Frage: Welche? Und kann ich das überhaupt, ohne Unsinn zu verzapfen?

Vielleicht sollte man sich erst einmal bewusst machen, in welcher Lage wir uns befinden. Dass die Merkmale Ü50, weiß, nicht akut von Altersarmut bedroht, weitgehend gesund, geregeltes Auskommen, fehlende Diskriminierung im Alltag, intakter Freundeskreis, kein schwelender Bürgerkrieg, ärztliche Versorgung ... keine Selbstverständlichkeit sind. Mit anderen Worten: Wir sind soweit privilegiert, dass wir, die wir in dieser Situation sind, uns die Probleme mehr oder minder heraussuchen und zu „unseren“ machen können. Während sich einige meiner Kollegen wochenlang darüber echauffieren können, dass sie mit ihrem alten Diesel, mit dem sie jahrzehntelang in erster Linie billig tanken konnten, nun nicht mehr in die Stadt fahren dürfen, ortsansässige Bauern damit hadern, dass sie ihre Gülle nicht weiterhin auf den Feldern verklappen können, habe ich weder das eine noch das andere, weiß aber dennoch, dass der gesunde Menschenverstand beides gebietet, wenn einem mehr als die eigene Generation von Bedeutung ist.

Die erste Spezies regt sich parallel dazu über die viel zu vielen E-Zapfsäulen auf, an denen man nicht mehr parken darf, und über „komplette Straßenzüge“, die ganz alleine Behindertenparkplätzen vorbehalten sind. Der Rest klagt über unzuverlässige Handwerker, Fachkräftemangel, eine ungepflegte Hecke, ungemähten Rasen, den einen Gartenzwerg zu viel oder den Kurzhaarschnitt der Tochter. Das komplizierte Prozedere bei deiner letzten Familienfeier, wer vegan, glutenfrei oder mit Nussallergie angereist ist, warum man das ganze Menü dreimal umwerfen musste, in allerletzter Sekunde aber doch noch alles retten konnte, indem man den Koch auf seinem Privathandy erreichte ... Mir so was von egal. Respekt, wer es mit so einer überzüchteten Verwandtschaft tatsächlich soweit gebracht hat, wer mit Anfang vierzig endlich bei deinen Eltern ausgezogen ist. Lass uns übers Wetter reden oder Fußball, das ist mindestens so uninteressant wie der 24-Stunden-Binge-Watching-Marathon von Leuten, die Tütensuppen kochen oder sich nicht zwischen drei Ballkleidern entscheiden können.

Es gibt gute Gründe, warum solche Sendungen in Ländern, die für Primark nähen und in die abgelaufene europäische Medikamente verklappt werden, nur höchst selten im Staatsfernsehen laufen. Deine persönlichen Probleme? Kann man machen, aber hast du keine Freunde, keine Familie, niemanden, der dir vertraut ist, oder willst das wirklich mit jemandem auskaspern, der es dann ungefärbt in die Welt trägt? Also ich würde es ausplappern, ohne zu zögern, weil du es nicht anders verdient hast. Nur müsste ich in den meisten Fällen lügen, wenn ich vorgeben sollte, sie nachempfinden zu können. Deswegen heißt es wahrscheinlich auch „persönliche Probleme“. Nein, es hat nichts mit fehlender Empathie zu tut, vielmehr damit, dass ich mir nicht anmaße zu wissen, wie sich bestimmte Dinge anfühlen, die sich mir aus mangelnder Eigenerfahrung entziehen. Ich möchte auch nicht, dass andere Menschen über die Dinge entscheiden, die eigene Erfahrungen schon rein anatomisch ausschließen. Mein Bierbauch, meine Prostatabeschwerden.

Ohne dir an dieser Stelle eine Illusion rauben zu wollen, aber die meisten Menschen außerhalb deines Freundeskreises oder deiner Familie, die vorgeben, sich für deine psychischen Probleme oder deine Krankheitsgeschichte zu interessieren, wollen sich lediglich versichern, dass ihnen dasselbe Schicksal erspart bleibt. Ihr Interesse ebbt in dem Moment ab, an dem sie erkennen, dass Depressionen oder Leberzirrhose nicht wirklich ansteckend sind. Wenn du immer noch unzufrieden bist, weil du dich unterrepräsentiert fühlst, mach ein Egozine oder eröffne einen Blog, den keiner liest. Counter helfen, deine Entscheidung. Habe ich die Lösungen für Dinge, an denen sich weitaus schlauere Menschen die Zähne ausbeißen? Ich denke nicht, zumindest maße ich mir das bei essentiellen Fragen nicht an, trenne aber trotzdem instinktiv meinen Müll und nehme zur Kenntnis, dass viele meiner verwahrlosten Freunde ein besseres Demokratieverständnis pflegen als die Menschen in Anzug und Casualkragen, mit denen ich tagtäglich beruflich zu tun habe.

Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die meisten von uns sich in den Achtzigern längst damit arrangiert hatten, dass der ganze Planet uns ohnehin in absehbarer Zeit um die Ohren fliegen würde. Hätte ich mich seinerzeit in den frühen Achtzigern nicht bereits entschieden, wäre es heute an der Zeit, Punk zu entdecken, „um einfach dagegen zu sein“, gegen nahezu alles, was dieser Tage so läuft. Wie schön ist es da doch, wenn man „nur“ über Musik schreiben kann, eine Sache, die im Amateurbereich keine „echten“ Probleme bereithält, ein Luxus, den wir uns leisten können, weil der Zirkus mit den Löwen und den Christen gerade Winterpause hat. Trotzdem, an dieser Stelle die pauschale Entschuldigung dafür, wenn ich deiner redundanten Pimmelkapelle einfach nichts abgewinnen kann, denn wo wären wir, wenn es hier keine „essentiellen Probleme“ geben würde? Dinge und Menschen, die mich plagen, sind Sammler, die mitten in der Nacht anrufen, weil sie nicht schlafen können, weil ihnen eine Katalognummer nicht logisch erscheint, und das doch alles gar nicht so richtig sein kann. Essentielle, lebensbedrohliche Situation, die jeden Schmerzpatienten auf der Intensivstation wie einen Hypochonder aussehen lassen. Warum ich? Weil ich mich darin angeblich auskennen muss, schließlich habe ich ja eine riesige Plattensammlung, da könnte ich doch durchaus einmal nachsehen. „Plattenansammlung! Das ist ein Unterschied, und überhaupt. Gute Nacht.“

An einem guten Tag, wenn ich nicht allzu müde und damit gereizt bin, erkläre ich mit Engelsgeduld, was wirkliche Probleme sind. Wenn man in einem anderen Land die falsche Hautfarbe hat, einem die Schlafpappe gestohlen wurde oder wenn einem das Haus über dem Kopf von russischen Kampfbombern weggebombt wurde und man eben auf dem Mittelmeer ohne Schwimmweste auf einem Schlauchboot sitzt, das Luft verliert. Meistens bin ich aber gereizt und lege einfach auf, weil Menschen mit Katalognummernfragen ohnehin keine Probleme erkennen würden. Dein Paket ist wieder mal nicht angekommen, weil der Bote ein unterbezahlter Osteuropäer ist, der für dein günstiges Porto in seinem Fahrzeug nächtigt, weil er sich nichts anderes leisten kann. Natürlich gehört der Bote an den Pfahl und nicht die Ex-BWL-Studenten, die dieses maximal kostenreduzierte (bedeutet im Umkehrschluss „gewinnoptimiert“ für den Auftraggeber) Modell ausgeklügelt haben. Wenn es eine Hölle gibt, dann für solche als Menschen verkleidete Bürokraten, denen es egal ist, ob sie Firmen oder Arbeitslager gewinnbringend optimieren. Wie dem auch sei, du hast mein Mitgefühl, denn das sind handfeste Probleme, so wie die letzte dir fehlende Variante derselben Platte, die bereits in 17 Farben und zehn Covervariationen neben den chilenischen, japanischen und indonesischen Pressungen stehen könnte. Für den durchschnittlichen Jahreslohn eines kambodschanischen Tagelöhners würde auch sie ihren verdienten Platz in deiner Sammlung finden, aber in vg+? Ich weiß nicht.

Wenn es um anderer Leute Hobbys geht, hört der Spaß auf. Viele jahrzehntelang innig gehegte Feindschaften begründen sich darin, dass man im letzten Jahrtausend in einem längst vergessenen Review der Band des inzwischen größten Antagonisten so etwas wie „langweilig“ erwähnt hat. So verlaufen Gräben in dieser ehemals überschaubaren Szenerie, dort, wo man eine im Grunde genommen ultrabeschissene und vor allem überflüssige Fünftkopie einer schon nicht guten Band gerade mal als „nett und nicht zwingend“ bezeichnet hat, mit dem Gedanken, dass die Buben ihre Freizeit für so etwas opfern, statt mit ihren Handys oder an sich selbst herumzuspielen. Was aus so einem kleinen Ding entstehen kann? Du machst dir kein Bild. Ein „falsches, ehrliches“ Review beschert dir innigere Feindschaften als eine FDP-Parteimitgliedschaft. Nun könnte ich es „nett“ formulieren, aber ich bin Oldschool im wahrsten Sinne des Wortes, und in einer Zeit aufgewachsen, als man den Eltern noch nicht sagen musste, dass ihr Kind eine „Empfehlung für die Hauptschule bekommt“, sondern dass es schlicht und ergreifend einfach dumm ist. Wenn mich meine Eltern eines gelehrt haben, dann, dass man ehrlich sein soll. Was sie mir nicht gesagt haben, ist, dass dieser Weg stets ein steiniger sein wird.

Dann ertappe ich mich bei der Frage, warum ich in meiner Blase einen „FCK AFD“-Sticker posten sollte, wenn dort ohnehin niemand ist, der anderer Meinung sein könnte, und nehme mir vor, eine Woche mit dem ganzen Scheiß auszusetzen, weil Predigten an die Konvertiten in etwa so geil sind, wie sich selber fingierte Valentinskarten zu schicken oder sich mit vier selbstangelegten Profilen gegenseitig auf Instagram und Facebook permanent zu liken. Nur weil ich über bestimmte Dinge nicht schreibe, heißt das nicht, dass sie mich nicht beschäftigen oder ich sie kommentarlos einfach tue. Wer Gutes tun muss, um darüber zu reden, macht das meistens, um überhaupt etwas zu sagen zu haben. Dabei ist manches einfach so selbstverständlich wie Zähneputzen, eine gewisse Körperhygiene und andere Dinge, aus denen andere sich eine komplexe Lebensphilosophie basteln, die ungefragt jedem aufs Ohr gedrückt wird, der mit seinem Crossfit-Marathon-Training oder dem veganen, ausschließlich aus saisonbedingten, regionalen Anbau bestehenden Speiseplan für die nächsten 14 Tage (low carb versteht sich) noch nicht völlig ausgelastet ist. Manche Dinge sind für mich nach so langer Zeit derart selbstverständlich, dass mir das krampfhafte Hinterfragen schwerfallen würde, weil es eine natürliche Sache geworden ist. Was die meisten Dinge anbelangt, habe ich mich seit vielen Jahren positioniert. Da bewegt sich nichts, weil Grundeinstellungen keinen Stimmungsschwankungen unterzogen sind, und wer gewisse Gesten vermisst, hat die letzten fünfzig Jahre nicht aufgepasst.

Mein Problem – und damit im Umkehrschluss eines, das dir, sofern du aufgepasst hast, am Arsch vorbeigehen wird – ist das Bewusstsein, ein Teil der merkantilen Produktionskette zu sein, die sich mit schwankender Begeisterung zwischen reiner Warenpräsentation zum Zwecke des Verkaufs und den wenigen wirklich interessanten Bands mit ihren ebenfalls feilgebotenen Tonträgern bewegt. Ein Luxusproblem, das man sich nur leisten kann, wenn man keine anderen Sorgen hat. Ob es einen Unterschied gibt zwischen diesem Druckprodukt und einem Golf-, Yacht- oder auf Karbonmountainbikes spezialisierten Fachmagazin? Wer weiß das schon so genau?

Warum also das Ganze? Für die Kohle, die es für die meisten wie mich hier nicht gibt? Ehre? Ego? Ruhm? Dann doch lieber für den Soundtrack, denn der sollte ein guter sein, wenn schon alles vor die Hunde geht. Was letztendlich zählt, ist das Bewusstsein dafür, in welch komfortabler Situation wir uns befinden. Nicht dass das irgendetwas besser oder schlechter machen würde. Nur ab und an daran zu denken, würde eventuell schon helfen.